Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
ich nicht mehr.« Kurt leerte seine Flasche und sah auf die Armbanduhr. »Wahrscheinlich habe ich sie mal gefragt.«
»Auf Estnisch?«
»Man kommt ziemlich weit mit Gebärden und ein bisschen Freundlichkeit, aber weißt du, ich habe es jetzt wirklich eilig«, erklärte Sebastian Kurt und stellte die leere Flasche so vor das Familienbild, dass die Zwillinge mutterlos in den Raum blickten, ein Mädchen auf jeder Seite der Flasche. »Ich habe in einer Stunde ein Meeting in Kopenhagen, und ich würde gern noch …« Der Redestrom hielt an, als er Dan aus dem Gästestuhl lockte und zur Tür lotste. »Schau doch in zwei, drei Wochen noch mal rein. Dann überlegen wir uns, wie es weitergeht«, sagte er und gab Dan die Hand. »Lass dir bei Elisabeth einen Termin geben.« Noch ein kreideweißes Aufblitzen, dann schloss sich die Tür, und Dan stand mit der halb leeren Limoflasche in der Hand neben Elisabeth Lunds Schreibtisch. In einem der Gästestühle saß Anders K., er hatte es sich bequem gemacht, die Hände steckten tief in den Taschen.
»Willst du dich nicht setzen? Da ist noch ein Stuhl«, sagte Elisabeth und lächelte. Das dunkle Haar hatte sie in einem lockeren Knoten aufgesteckt und ihre Designerbrille in die Stirn geschoben, wo sie von ihrem Pony festgehalten wurde.
»Danke.« Dan ließ sich auf den freien Stuhl fallen und nickte Anders zu. »Das war wohl ein Volltreffer«, murmelte er vor sich hin und beobachtete seinen Chef durch die geschlossene Glastür. Kurt packte einige Unterlagen in seine Aktentasche und führte dabei scheinbar ununterbrochen Selbstgespräche. Das schnurlose Headset war aus diesem Winkel nicht zu sehen, aber Dan hoffte für seinen Chef, dass er es trug. Es war jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt, dass der Boss durchdrehte und während der Arbeitszeit mit imaginären Personen redete. Dan lächelte vor sich hin und richtete den Blick wieder auf Elisabeth. Ihm wurde klar, dass sie und Anders ihn bereits eine Weile abwartend angesehen hatten. »Entschuldigung«, sagte er zum zweiten Mal an diesem Vormittag, »habt ihr mich etwas gefragt?«
»Meine Fresse, warst du lange weg, Dannyboy«, sagte Anders K. mit einem Grinsen. »Wird man
so
zerstreut, wenn man für eine Weile zu Hause bleibt?«
Elisabeth lächelte. »Okay, ich spule noch einmal zurück, damit du eine Chance hast, an unserem Gespräch teilzunehmen«, sagte sie und sah ihn spöttisch an. »Ich habe gesagt: ›Willst du dich nicht setzen?‹ Daraufhin hast du dich bedankt und hinzugefügt: ›Das war wohl ein Volltreffer!‹ Worauf ich gesagt habe: ›Was meinst du?‹ Und dann bist du ins Koma gefallen.« Sie legte den Kopf schräg und klimperte mit ihren langen, geschwungenen Wimpern. »Sie dürfen mich nicht im Ungewissen lassen, Herr Sommerdahl! Was meinten Sie?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Und euch sollte ich sie besser nicht erzählen.« Er blickte in ihre grünen Katzenaugen und gab auf. »Ich denke, dass jemand aus der Agentur eine Affäre mit Lilliana hatte. Kurt hat sich gerade einen kleinen Versprecher geleistet, der möglicherweise auf ihn hindeutet.«
»Kurt und Lilliana?« Eine sorgfältig gezupfte Braue hob sich in einem skeptischen Bogen. »Die Putzfrau?«
Dan nickte.
»Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Du weißt doch, wie sie aussah«, sagte Elisabeth und ließ eine schmale, hübsch manikürte Hand ein paar unsichtbare Fussel vom Schreibtisch fegen. »Sie lief in den unförmigsten Klamotten herum und trug nie auch nur ein bisschen Make-up. Ausgelatschte Turnschuhe, breiter Hintern.«
»Ganz deiner Meinung«, unterstützte sie Anders K. »Lilliana sah aus, als würde sie sich geradezu Mühe geben, um unattraktiv zu wirken.«
»Vielleicht.« Dan zuckte mit den Achseln. Nach dem kurzen Blick auf Lillianas tote Augen und die bleiche Marmorhaut fiel es ihm schwer, so oberflächlich über sie zu reden. Er hatte das Gefühl, in sie hineingesehen zu haben, als hätte er sie gekannt. Das Bild ihres toten Körpers würde er den Rest seines Lebens nicht mehr loswerden.
»Denk doch mal daran, was Kurt zu Hause hat«, ergänzte Elisabeth mit gedämpfter Stimme und einem Blick durch die Glastür. »Henriette sieht aus wie ein Model. Das ist doch kein Vergleich.«
Dan antwortete nicht und überlegte, ob Elisabeth mit ihrer Beurteilung von Henriettes Aussehen recht hatte. Der Schriftsteller Tom Wolfe hatte die abgezehrten Society-Frauen New Yorks mal »social x-rays« genannt. An diese
Weitere Kostenlose Bücher