Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
horchen zu können. Nicht ein einziges Klack-klack war im Treppenhaus zu hören, nur sein eigener keuchender Atem. Er beschloss, wieder nach Hause zu gehen, schließlich hatte er jetzt die Adresse.
Als er auf den Fußweg trat, hätte ihn beinahe ein großer Mann umgerannt. In einem ersten Impuls hob der Bursche die Fäuste, irritiert, dass irgendjemand es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Doch ein Blick auf Dans breite Schultern und die rasierte Glatze ließ ihn unsicher werden, der Anflug unverhohlener Wut wich blitzschnell einem anderen Gesichtsausdruck: »’tschuldigung, Skipper!« Er ließ seine mächtige Faust schwer auf Dans Schulter fallen. »Wär fast schiefgegangen!«
Dan öffnete den Mund, um zu antworten, doch der Hüne lief einfach weiter, ohne stehen zu bleiben. Erst als er um die Ecke bog, fing Dans Herz wieder zu schlagen an. Er hatte sich gerade den zweiten Schock innerhalb von drei Minuten eingefangen: Der große Kerl war Benjamins Vater. Verdammt noch mal, der Mann war John Peter
fucking
Frandsen! Das dümmste Schwein auf der Welt, und er hatte Dan angelächelt! Dan hatte Marianne versprochen, dass John ihn nicht sehen würde, und dann passierte so etwas. Andererseits hatte es nicht so ausgesehen, als hätte John ihn erkannt, tröstete er sich. Nur was jetzt? Sollte er ihn verfolgen? Mit etwas Glück würde der Mann ihn direkt zu seinem Hotel führen. Die Chance, ihm noch einmal zu begegnen, war nicht sonderlich groß, wenn er nicht herausfand, wo er wohnte. Dan lief zur Ecke und sah gerade noch, wie Johns breiter Rücken hinter einem parkenden Lieferwagen verschwand.
Benjamins Vater sah sich nicht ein einziges Mal um. Er ging schnell und ohne zu zögern, als würde er den Weg ganz genau kennen. Sein langer dünner Pferdeschwanz zeichnete eine Schneckenspur zwischen seinen Schulterblättern, die braune Lederjacke reichte nicht ganz bis über den Hintern. An den Füßen trug er hellbraune Cowboystiefel. Die Absätze waren schief gelaufen und betonten seine kantige, wenig geschmeidige Art, sich zu bewegen. Bei jedem Schritt warf er seinen Körper regelrecht zur Seite. Er sah aus wie Brutus aus den Popeye-Filmen. Vielleicht hatte er ihn deshalb Skipper genannt? Dan ertappte sich bei einem Grinsen, wurde aber sofort wieder ernst, als John Peter Frandsen an einem Auto stehen blieb. Ein knallblauer Mazda 323 . Ärgerlich! Dan würde nie herausfinden, wo der Mistkerl wohnte. Während John den Wagen aufschloss, prägte sich Dan die Autonummer ein. Er war so damit beschäftigt, die Nummer auswendig zu lernen, dass er beinahe nicht bemerkt hätte, wie Frandsen lediglich eine Einkaufstüte vom Rücksitz nahm und den Wagen wieder abschloss. Dans Frustration schlug um in ein Gefühl des Triumphs.
Frandsen überquerte die Straße und verfiel in einen leichten Trab. Vermutlich fror auch er, dachte Dan noch, als Frandsen plötzlich spurlos verschwunden war. Wo zum Teufel war er hin? Dan zwang sich, langsamer zu gehen, er schlenderte zu der Stelle, an der er Benjamins Vater zuletzt gesehen hatte. Erst als er direkt vor der Tür stand, wurde ihm klar, dass es sich um den Hintereingang des Hotels Marina handelte. »Gästeeingang« stand auf einem diskreten Schild. Dan fasste an die Klinke. Die Tür war natürlich verschlossen. Er ging um den Block herum und trat auf den Rathausmarkt, wo der Haupteingang, das Restaurant und die Rezeption des Hotels lagen.
Der Oberkellner stand direkt hinter der Tür. »Schon wieder hungrig, Herr Sommerdahl?«, erkundigte er sich mit einer kleinen Verbeugung.
»Eher kaffeedurstig«, antwortete Dan und ging ins Restaurant. Das Lokal war beinahe leer. Es war bald drei, die Mittagsgäste waren verschwunden. Ein paar Auszubildende deckten die Tische für den abendlichen Ansturm ein, und das einzige Geräusch, das er hörte, war das gedämpfte Klirren von Besteck und Porzellan auf steifem Leinen. »Trinken Sie eine Tasse mit?«, fügte er in einer plötzlichen Eingebung hinzu.
Dan sah ein Unbehagen über das stets höfliche und entgegenkommende Gesicht huschen. »Leider nein, Herr Sommerdahl«, sagte der Oberkellner. »Ich bin noch im Dienst.«
»Ja, natürlich. Das hätte ich mir denken können«, beeilte sich Dan zu sagen. Er zog das bearbeitete Foto von John Peter Frandsen aus der Tasche. »Aber Sie können mir vielleicht helfen …« Er reichte dem Oberkellner das Foto. »Wissen Sie, ob dieser Mann im Hotel wohnt?«
Ein Blick auf den Farbausdruck, dann ein rascher Blick
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