Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
uns etwas geben, womit wir arbeiten können. Sonst werden vielleicht noch mehr Frauen ermordet.«
Sie sah ihn an, ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. »Wenn ich auch nur ein bisschen erzähle, könnt ihr euch sehr viel mehr zusammenreimen. Und ich würde dem schaden, der uns hilft.«
»Dem Eigentümer des Hauses in der Jernbanegade?«
Sie nickte.
»Ist es derselbe, der euch Arbeit verschafft?«
Schweigen.
»Aber siehst du denn nicht, dass die euch ausnutzen, Jo?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Sie helfen uns.«
»Und verdienen viel Geld mit euch.«
»Alle verdienen Geld miteinander,
Sir
.«
Er sah sie ein paar Sekunden an, bis ihm klar wurde, dass ihre Aufmerksamkeit allmählich nachließ. Hinter den halb geschlossenen, dunkelbraunen Augen war sie bereits auf dem Weg durch die Glastür, zurück in die Jernbanegade.
Flemming änderte die Taktik. »Okay, Jo. Du musst uns nicht von den Leuten erzählen, die dir und den anderen Mädchen hier in Christianssund helfen.« Sie sah ihn erstaunt an, und in seinem Übermut legte er eine Hand auf ihren Arm, auf die Stelle, auf der Pia Waages Finger wenige Minuten vorher gelegen hatten. Es wirkte nicht ganz so beruhigend, wie es gedacht war. Jo stieß seine Hand weg, als wäre sie eine ungewöhnlich ekelhafte Spinne, und rückte ihren Stuhl ein paar Zentimeter zurück. Schluss jetzt.
Flemming hob beide Hände in die Luft, um ihr zu zeigen, dass er keine unpassenden Berührungsversuche mehr unternehmen würde, ihre Schultern entspannten sich wieder. Er räusperte sich. »Ich habe ein Angebot für dich, Jo.«
Sie sah ihn an und nickte.
»Wenn du uns weitere Informationen gibst, über Johnny Evil und den Ort, von dem ihr geflohen seid, und weshalb Sally solche Angst hatte, dann können wir dich während des Gerichtsverfahrens beschützen.« Sie antwortete nicht, sondern sah ihn unverwandt an. »Ich werde dir eine neue Wohnung besorgen, eine neue Arbeit und einen neuen Namen, wenn du willst.«
»Und was ist nach dem Gerichtsverfahren? Dann schickt ihr mich zurück?«
Flemming schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jo, ganz ehrlich.« Sie hielt seinem Blick stand. »Aber wenn du uns hilfst, Sallys und Lillianas Mörder zu finden, verspreche ich dir, dass ich und eine ganze Menge Menschen, die mehr Einfluss haben als ich, alles tun werden, was in unserer Macht steht, um dir Asyl und eine Aufenthaltserlaubnis oder wie immer das heißt zu beschaffen. Das verspreche ich.« Er legte die rechte Hand mitten auf die Brust, etwas unsicher, wo das Herz sich eigentlich befand.
Die melodramatische Geste gab offensichtlich den Ausschlag. »Ich erzähle alles, was ich weiß, über das Bordell, aus dem Sally und ich gekommen sind, und dann wohne ich bei ihr, bis ich eine neue Identität bekommen habe.« Sie zeigte auf Pia Waage, hielt den Blick aber weiterhin fest auf Flemming Torp gerichtet.
Die unerwartete Forderung brachte Flemming aus dem Konzept. Seine Augen flackerten hinüber zu Pia, und erst, als sie ihm lächelnd und mit einem deutlichen Nicken ihr Einverständnis signalisiert hatte, wandte er sich wieder an Jo. »Abgemacht.«
Jo griff nach seinen Zigaretten und entdeckte, dass die Packung leer war. Sie knüllte sie zusammen und holte ihre eigene Schachtel aus der Tasche.
»Das musst du dir in meiner Wohnung allerdings abgewöhnen«, erklärte Pia Waage ruhig. »Ich hasse es, wenn alles nach Rauch stinkt.«
Jo lächelte und stieß zwei Rauchsäulen durch die Nase aus.
»You’re the boss.«
»Wir nehmen dich jetzt mit aufs Präsidium, Jo. Dort können wir aufnehmen, was du uns zu erzählen hast. Damit wir auch alles mitbekommen. Hinterher kannst du mit Waage deine Kleider und Toilettenartikel holen, alles Weitere könnt ihr dann unter euch ausmachen. Okay?«
Das Ärztehaus von Christianssund am Rathausmarkt war ein unprätentiöses, grau verputztes Eckgebäude mit dunkelgrünem Fachwerk: Parterre, erster Stock sowie eine hohe Dachetage, deren Fenster als Erker aus dem roten Mansardendach hervortraten. In der Mitte der Doppeltür hing ein imponierendes Messingschild, auf dem die Namen der Ärzte sowie ihre Öffnungszeiten aufgeführt waren. Außerdem stand dort die Telefonnummer, unter der die Nachtwache im Zentralkrankenhaus zu erreichen war. Das Ärztehaus strahlte Solidität und Kontinuität aus. Wo sonst fanden sich gut zehn Partner, die so sicher waren, bis ins Rentenalter zusammenzuarbeiten, dass sie ihre Namen auf ein und dasselbe und garantiert sauteure
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