Die guten Schwestern
Mutter«, sagte der ältere, hochgewachsene Herr. Ich weiß nicht, warum ich ihn als älter auffaßte, wenn ich ihn auf etwa fünfundsechzig schätzte. Dann war er doch nicht einmal fünfzehn Jahre älter als ich. War er in Wirklichkeit siebzig? Na, jedenfalls waren wir jetzt per du, während die Jüngeren den alten Teddy siezten.
»Ich bin mittlerweile ziemlich gespannt, Herr…?« sagte ich.
»Karl Viggo Jensen. Komm herein und iß einen Happen. Dann werde ich dir von deinem Vater und meinem Vater erzählen und von Irmas heimlichem Leben.«
7
F ritz merkte, daß ich zu ihm hinschielte, als wir durch die schmale Tür in eine niedrige Stube traten. Ich fühlte Zorn in mir aufsteigen. Weniger über die augenblickliche merkwürdige Geheimniskrämerei als vielmehr darüber, daß mir so lange Jahre wichtige Aspekte aus dem Leben meiner Familie vorenthalten worden waren. Daß mein biologischer, unbekannter Vater und meine liebe und nun an totaler Demenz leidende Mutter ein Doppelleben geführt hatten, als ob sie Agenten in einem ihnen feindlich gesinnten Land gewesen wären. Die Stube war klein und auf altmodische Weise gemütlich mit schweren Möbeln und naturalistischen Gemälden an der Wand. Rothirsch und wettergebräunter Fischer. Der klassische, kleinbürgerliche Kitsch, dachte ich in meiner akademischen Arroganz. Als ob meine Plakatkunst in meinem Zimmer an der Uni irgend etwas anderes war als die Widerspiegelung dessen, was ich und meine Gleichgesinnten nun einmal schön fanden. Waren wir nicht selber ebenso beschränkt in dem, was wir für guten Geschmack hielten? Auf einem schweren Regal standen einige Bücher, meist Kriegsund Militärgeschichte, wie mir schien. In einer Ecke stand ein abgenutzter Ledersessel neben einem runden Couchtischchen und einem dickbäuchigen schwarzen Kaminofen. Auf dem Tisch lagen drei Bücher, aus denen Lesezeichen herausragten. Die Bücher lagen dort nicht zur Zier. Dort saß der Herr des Hauses und bildete sich. Die Stube roch nach Pfeifenrauch und leicht ungelüftetem Altmännerheim, aber es war eigentlich kein unangenehmer Geruch. Eher etwas muffig wie Fallobst, ein Duft nach Kindheit, der mir den kleinen bäuerlichen Betrieb meiner Großeltern ins Gedächtnis rief, wo ich als ganz kleiner Steppke meine Ferien verbracht hatte. Ich konnte in eine altmodische Küche schauen, in der eine Dame in Karl Viggo Jensens Alter herumhantierte. Sie nickte mir kurz zu und wischte ihre Hände an der Schürze ab, ehe sie in die Stube trat und mir die Hand reichte. Sie war feucht und kühl, aber der Händedruck war fest, und in ihrem faltigen Gesicht saßen klare graue Augen.
»Karla Jensen«, sagte sie. »Sie müssen Hunger haben, nun, wo es keine Fähren mehr gibt, auf denen man einen Happen essen konnte.«
»Danke für die Einladung«, sagte ich und ließ mich von der altmodischen Einrichtung und Stimmung gefangennehmen. In Kopenhagen vergaß man so etwas. Es gab noch ein Leben auf dem Lande, wo Tempo und Tonfall anders waren. Wo alte Worte und Wendungen existierten, als wäre das Fernsehen nie erfunden worden.
»Kann das nicht noch eine Viertelstunde warten? Ich würde Irmas Bruder gern noch das Museum zeigen«, sagte Karl Viggo Jensen.
»Dem steht nichts entgegen«, sagte sie. »Ich habe nur ein paar belegte Brote gemacht. Die können noch eine Viertelstunde stehen, aber wenn der Herr nun Hunger hat…«
»Das geht schon«, sagte ich.
»Na, dann lege ich den Schnaps noch mal auf Eis«, sagte sie, als wäre der Aquavit am wichtigsten und nicht die erstaunlichen Düfte, die sich im Zimmer verbreiteten, und ging wieder in ihre Küche.
Wir durchquerten ein anderes Zimmer, in dem der Tisch für das Mittagsbrot gedeckt war, betraten den Garten und steuerten auf ein niedriges, weißgekalktes Gebäude zu, das früher einmal der Schweinekoben gewesen sein dürfte. Unsere Füße rutschten auf den glitschigen Blättern der Blutbuche aus, die noch vom letzten Herbst dort lagen. Karl Viggo Jensen ging voraus, ich trottete hinterher, und dann kam Fritz, der mit den Füßen schlurfte und ein wenig schnaufte. Er war nicht mehr jung und hatte sich eigentlich nie geschont. Hinterließen Zigarre und Pfeife mittlerweile ihre Spuren in den Lungen meines Bruders? dachte ich und machte mir wirklich Sorgen um ihn. Die Familie ist doch etwas Seltsames, das einen oft nerven kann, aber es ist doch das einzig Dauerhafte, was man hat, auch wenn man es sich nicht selber ausgesucht hat.
Es war ein
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