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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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endlos dunkel, und nicht ein einziger Stern ist zu sehen. Nichts geschieht dort draußen, nichts verändert sich.
    Der Herrscher wünscht sich oft, verrückt zu werden, und oft fragt er sich, ob er es schon ist. Doch er weiß, er ist es nicht, und er wird es niemals werden.
    Ab und zu fällt irgendwo ein Stein herab, und diesem plötzlichen Geräusch schmeckt der Herrscher tagelang nach, ruft es sich wieder und wieder ins Ohr, um es ganz auszukosten, denn eine andere Abwechslung gibt es nicht.
    Das Material der Fensterscheiben ist im Lauf der Äonen dem Zug der Schwerkraft gefolgt, unendlich langsam abwärts geflossen und gesunken. Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die hohen Glasscheiben an ihrem unteren Ende dicker und an ihrem oberen Ende dünner, bis sie sich eines Tages am oberen Rand öffneten und dem Wind zuerst zögerlich pfeifenden, später triumphierend heulenden Einlass gewährten in die bis dahin stille Thronhalle.
    Immer weiter haben die Scheiben seither nachgegeben, und der Wind bläst heute durch den Saal, wie er über die Ebene bläst. Und mit sich bringt er Staub.
    Staubbedeckt und unsichtbar liegt nun der kostbare kristallene Boden des Thronsaals. Staub hat sich auf die Bilder und Statuen an den Wänden gelegt, auf die gepolsterten Sitzflächen der Stühle, und auf den Körper des Herrschers selbst. Staub liegt auf seinen Armen und Händen, auf seinem Schoß, seinen Füßen und seinem Haar. Sein Gesicht ist grau von Staub, und einzig die Tränen, die aus seinen Augen rinnen, hinterlassen Spuren auf den faltigen Wangen, entlang der Nase, auf der Oberlippe und am Hals, wo sie den Kragen seines Krönungsmantels netzen, der einmal purpurrot war und der jetzt blass und grau ist.
    So sieht der Herrscher alles zerfallen rings um sich her, und er wartet mit unsagbarer Sehnsucht darauf, dass endlich auch die Maschine hinter seinem Thron aufhört zu funktionieren, wie alles andere, und ihn sterben lässt.
    So sitzt er regungslos, aber nicht aus freien Stücken. Er sitzt regungslos, weil einst alle Muskeln und alle Sehnen in seinem Körper durchtrennt wurden und alle Nervenfasern unwiederbringlich versengt. Kaum sichtbare stählerne Klammern halten seinen Schädel, sind fest verschraubt mit der Rückenlehne des Throns. Sie dringen auf der Höhe seines Hinterhauptbeins unter die Kopfhaut, sind mit dem Schläfenbein verschraubt und führen nach vorn bis unter das Jochbein, wo sie die aufrechte Haltung des Schädels fixieren. Zusätzliche Klammern halten den Unterkiefer, der sonst haltlos herabsinken würde.
    Hinter dem Thron steht eine gewaltige, lautlos arbeitende Maschine, die den Körper des Herrschers seit Jahrtausenden dazu zwingt, am Leben zu bleiben. Armdicke Röhren führen von der Maschine durch die Thronlehne in den Rücken des Herrschers, unsichtbar für einen Betrachter, der den Saal betreten würde. Sie bringen den Brustkorb dazu, immer weiter zu atmen, das Herz dazu, immer weiter zu schlagen, und versorgen das Gehirn und die anderen Organe mit Nahrung und Sauerstoff.
    Die Augen des Herrschers sind die einzigen Körperteile, die er noch bewegen kann. Er kann Tränen vergießen, so viel er will, und wären sie nicht verdunstet, der Saal würde unter Wasser stehen von den Tränen, die er schon geweint hat. Er kann hinsehen, wohin er will, aber seit langer, langer Zeit starrt er nur noch auf das Bild ihm gegenüber. Es ist ein grausames, höhnisches Bild, das in all den Epochen nichts von seiner Grausamkeit verloren hat: das Porträt seines Bezwingers. Der Herrscher starrt es an und wartet darauf, dass ihm Gnade widerfahren möge – wartet, wartet, wartet und weint.

Wenn wir die Sterne wieder sehen
    Das Feuer in ihrer Mitte war sehr klein, kaum ausreichend, um den Inhalt des Topfes darauf gegen den Widerspruch der grimmigen Kälte am Kochen zu halten. Sie saßen in einem weiten Kreis darum herum, die Frauen und Kinder und die alten Männer der Horde, und starrten stumm in die müden Flammen, mit bedächtig kauenden Mündern. Geistesabwesend versuchten sie, den Genuss des einfachen, faden Breis auszudehnen, den sie mit bloßen Fingern aus abgeschabten Holzschalen schaufelten.
    Das Licht des Feuers erhellte die kalten Felsen rings um die kleine Gruppe nur schwach. Traurig irrlichterte es auf den abgezehrten Gesichtern, in die die Strapazen lebenslanger Flucht eingegraben waren. Es war das einzige Licht in der Nacht. Der weite Himmel über ihnen war schwarz wie ein unendlich tiefer Abgrund.
    Cheun war

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