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Die Haarteppichknüpfer - Roman

Die Haarteppichknüpfer - Roman

Titel: Die Haarteppichknüpfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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der einzige Krieger in der Runde. Schweigend aß er seinen Brei, von dem er wusste, dass er ihn nicht satt machen würde. Satt – es war Jahre her, seit er das letzte Mal satt gewesen war. Damals, als sie noch in den Tälern am Fluss gelebt hatten, Tälern mit fetten Weiden und guten Böden. Jetzt hatte der Feind diese Täler, und die Weiden waren auf immer unter der grauen Masse verschwunden, mit der er alles bedeckte, was er eroberte.
    Cheun aß schneller. Er musste zurück zu den anderen Männern, die oben am Berg Wache hielten. Sie hatten auch Hunger und warteten auf seine Rückkehr.
    Aus den Augenwinkeln sah er, wie der alte Soleun seine zersprungene Schüssel beiseite stellte und sich mit einem flüchtigen Lächeln über den Bauch strich, aus alter Gewohnheit, gerade so, als sei er gesättigt und zufrieden. Cheun warf nur einen kurzen Blick hinüber. Er wusste, was jetzt kam.
    »Der Himmel war nicht immer dunkel«, hub Soleun mit der dünnen Stimme des Alters an zu erzählen. »Nicht immer erdrückte Dunkelheit die Menschen, wenn die Nacht kam. Einst, vor undenklich langer Zeit, so lange her, dass der Regen längst alle Berge, die damals jung waren, ins Meer gewaschen hat – damals standen nachts Sterne am Firmament.«
    Die Kinder liebten diese Erzählungen der Alten. Cheun verzog abfällig das Gesicht. Es sich zu ersparen, im Alter wieder kindisch zu werden, das allein sprach schon dafür, den Tod des Kriegers zu suchen.
    »Sterne … Nach all der Zeit hat unsere Sprache noch immer das Wort dafür bewahrt«, fuhr Soleun bedächtig fort. »Obwohl kein lebendes Auge jemals einen Stern gesehen hat, wissen wir doch aus den Überlieferungen unserer Ahnen, dass ein Stern ein kleiner, schwacher Lichtpunkt am Nachthimmel ist. Und solche Sterne bedeckten den Himmel zu tausenden und abertausenden. Damals war das Himmelsgewölbe des Nachts ein prächtig funkelndes Gewebe aus Licht, wie kostbares Geschmeide, besetzt mit großen und kleinen Brillanten. Doch dann kamen die Feinde. Von einer anderen Welt kamen sie auf die unsere, und die Sterne erloschen. Seither ist der Himmel nachts dunkel und bedrückt unsere Seelen.«
    Die Worte des Alten und der heilige Ernst, in dem er sie vortrug, lösten in Cheun etwas aus, das ihm Schauer in den Nacken steigen ließ, und er ärgerte sich darüber im gleichen Moment, in dem er es spürte.
    »Seither verfolgen die Feinde uns. Schritt um Schritt treiben sie uns vor sich her, töten uns und machen unsere Welt unbewohnbar. Niemand weiß, warum sie das tun. Sie vertreiben uns und breiten das Graue Land aus, immer weiter und weiter. Dem äußeren Anschein nach sind es Menschen wie wir, aber in Wahrheit sind sie Diener des Bösen. Sie sind nicht nur unsere Feinde, sie sind Feinde des Lebens, denn sie wollen, dass eines Tages das Graue Land die ganze Welt überzieht und dass es nichts anderes mehr gibt als das Graue Land und den Palast in seiner Mitte, den man den Palast der Tränen nennt. Aber da wir wissen, dass die Feinde dem Bösen dienen, wissen wir auch, dass sie letztendlich zum Untergang verdammt sind. Das Böse hat keinen Bestand aus sich selbst heraus. Sie mögen siegen, aber sie werden untergehen und der Vergessenheit anheimfallen. Wir mögen sterben, aber wir werden ewig leben. Alle diese Schrecken werden eines Tages ein Ende haben. Eines Tages werden die Sterne wieder leuchten. Und wenn wir die Sterne wieder sehen, werden wir erlöst sein.«
    Die Gesichter der Kinder hoben sich bei diesen Worten in die dunkle Höhe und erschauerten beim Anblick der lastenden Leere über ihnen. Der Blick der Älteren blieb dumpf auf den Boden gerichtet, und der Hauch ihres Atems leuchtete dunstig im Schein des kleinen Feuers.
    Eines Tages. Niemand wusste, wann das sein sollte. Wahrscheinlich würde der Regen auch die Berge ringsherum vom Angesicht der Welt hinwegwaschen bis dahin.
    Obwohl er seine Schale noch nicht leer gegessen hatte, erhob sich Cheun mit einem zornigen Ruck. Achtlos reichte er die Schale weiter an die Frau, die neben ihm saß, und ging aus dem Kreis fort in die Dunkelheit.
    Hier sah er nichts mehr. Er musste sich von Fels zu Fels vorwärts tasten, den Berg hinauf, auf einem Weg, den er sich bei Tage genau eingeprägt hatte. Jedes Geräusch war wichtig; er registrierte jede geringe Veränderung des Echos, das seine Schritte erzeugten. Der Pfad war steil und gefährlich.
    Er war außer Atem, als er im Wachlager der Männer ankam, das sie auf der dem Lager abgewandten Seite des

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