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Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)

Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)

Titel: Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Bluhm
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verdächtig nach einer beginnenden Grippe an.
    Während meiner Vier-Stunden-Schicht trinke ich dermaßen viel Wasser, als müsse ich die Wüste durchqueren. Dann endlich werde ich von Lissy abgelöst. Wird aber auch Zeit, die immunstärkenden Aufbautropfen sind verbraucht, und mir geht es immer noch nicht besser. Lissy empfiehlt die gute alte Hühnersuppe und danach mit Halswickel plus Lindenblütentee ins Bett zum Ausschwitzen. Ich bin zu schlapp, um mich an den Herd zu stellen und Suppe zu kochen. Deshalb entscheide ich mich für einen kleinen Umweg über den Holzplatz zur Hirsch-Apotheke. Wenn die Immuntropfen nichts ausrichten können, werde ich eben mit der guten alten Chemiekanone auf die Viren schießen. Irgendein Pharmariese hat garantiert ein Wundermittel im Sortiment, das alle Symptome gleichzeitig bekämpft und mich nachts beschwerdefrei schlafen lässt. Damit ich morgen den geplanten Geschenkeeinkauf für meine Lieben erledigen und übermorgen wieder fröhlich Päckchen für genervte Kunden fabrizieren kann.
     
    Der Holzplatz ist kein richtiger
Platz
, eher ein kleines Straßendreieck, dominiert von einem mächtigen Kastanienbaum in der Mitte. An heißen Sommertagen ein herrlich schattiges Fleckchen, um auf der darunterstehenden Bank zu verweilen.
    Die Hirsch-Apotheke befindet sich seit 1950 in einem weiß getünchten Jugendstilhaus, das verschwenderischer Stuck ziert, der teilweise sogar golden erstrahlt. Aus dem Fenster direkt über dem Apothekeneingang baumelt ein lachender Santa Claus mit Bart in rotem Mantel und Kapuze an einem dicken Seil. Einen prall gefüllten Jutesack auf dem Rücken «hangelt» er sich die Mauer hoch. Verrückt, was die Weihnachtsbranche sich alles einfallen lässt. Katja hat auch so einen Klettermann am Balkongeländer angebracht. Jeden Tag wird er ein paar Millimeter weiter hochgezogen, bis er an Heiligabend das Fenster zum Einsteigen erreicht hat. Die Kinder haben mächtig Spaß daran.
    Die Apotheken-Auslage wurde jahreszeitlich passend mit Grippemitteln, Vitaminpräparaten und einem verschnupften Styroporschneemann dekoriert. Jemand hat ihm zusätzlich eine rot-weiße Strickmütze aufgesetzt und einen farblich passenden Schal um den Hals geschlungen. Die wärmenden Stricksachen könnten aus Solveigs Kollektion stammen.
    Im Laden herrscht reger Kundenverkehr. Hinter der altmodischen Verkaufstheke aus dunklem Holz bedient ein attraktiver junger Mann. Ich schätze, es ist Robert. Ganz sicher bin ich aber nicht. Es muss ungefähr fünfzehn Jahre her sein, dass ich ihm bei einem der Schulfeste begegnet bin. Direkt besucht hat er uns zu Hause ja nie. Nur im Winter, wenn die Mädchen bei uns gebüffelt haben und es bereits dunkel war, hat er Solveig abgeholt.
    Ich reihe mich in die Warteschlange ein, die mit einer Mutter und ihren zwei kleinen Mädchen endet. Die Kinder, etwa im Alter meiner Enkel, nerven ihre Mama mit der Frage, wie lange es noch dauert.
    «Zählt mal die Zahnbürsten», rät die Mutter gelassen und deutet auf einen Extraverkaufsständer, der alles für die Zahnpflege anbietet.
    Kichernd beginnen die Mädchen: «Eins, und drei, und sieben, fünfzig! Drei und acht ist neunzig, und eins ist hundert!» Siegessicher klatschen sie in die Hände und rennen so lange um die Mutter herum, bis sie genervt «Emma, Nele, Schluss jetzt!» zischt. Einige Sekunden verhalten sich die Mädchen ruhig, bis Emma, die Größere, behauptet, sie könne länger auf einem Bein stehen. Die kleine Nele eifert ihr sofort nach, kann sich aber nicht lange halten und greift im Fallen nach dem nächsten Rettungsanker: Mamas Einkaufstasche. Das Gewicht des Mädchens scheint zu viel für die bereits prall gefüllte Tasche, die Henkel reißen und eine Ladung Orangen kullert über den gefliesten Fußboden. Der Apotheker will hinter seinem Verkaufstisch hervoreilen, doch die Mama meint, es sei nichts weiter geschehen. Die Kleine kommt mit dem Schrecken davon, und nach kurzem Luftholen grinst sie schon wieder. Die große Schwester lacht ausgelassen mit, denn sie hat das Spiel gewonnen. Ich helfe den Einkauf einzusammeln, und der Apotheker spendiert eine große Papiertüte.
    Dass es sich tatsächlich um Robert handelt, erkenne ich, als ich seinen Namen auf dem Schild am weißen Kittel entziffern kann. Natürlich ist auch er erwachsen geworden. Aus dem schlaksigen jungen Kerl mit zu langen Armen und dem hageren Gesicht ist ein gutaussehender Mann geworden, der einen modischen Stoppelbart und das

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