Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)
Geschwisterkonflikt nur zu bekannt vorkommt.
«Wie alt ist Robert eigentlich?», frage ich Friedrich.
«Sechsunddreißig», antwortet er.
«Also nicht zu alt, um sich vielleicht noch einmal neu zu orientieren, den Job zu wechseln, falls ihn die Apotheke doch nicht mehr ernährt», gebe ich zu bedenken. «Die jungen Menschen sind in der Beziehung ja viel flexibler als unsere Generation.»
«Robert nicht», entgegnet Friedrich kopfschüttelnd. «Seine Ansichten sind teilweise dermaßen verkrustet, als wäre
er
der alte Mann in der Familie. Er ist studierter Apotheker – Punkt. Ich hoffe inständig, dass er bald eine bezahlbare Unterkunft findet, meinetwegen auch eine neue Frau. Solveig hat versprochen, sich nach dem Weihnachtsmarkt um eine neue Bleibe zu kümmern. Unsere Zwangs- WG soll kein Dauerzustand werden. Vorübergehend würde ich ja sofort in unser kleines Wochenendhaus am Fohnsee umziehen, wenn es zu beheizen wäre. Aber leider verfügt das kleine Häuschen nur über einen Kamin, der seit Jahren nicht mehr richtig zieht.»
Ich werde hellhörig, denn ich liebe das Umland, und ein kleiner Wochenendausflug mit Friedrich würde mir gut gefallen. Auch wenn vor Weihnachten vermutlich nichts daraus werden wird. «Fohnsee … liegt der in der Nähe von München?», frage ich neugierig.
«Etwa fünfzig Kilometer entfernt. Wunderschöne Gegend, sommers wie winters …» Friedrich blickt verträumt ins Leere. «Als die Kinder noch klein waren, sind wir fast jedes Wochenende rausgefahren. Sobald im Winter die Temperaturen ein paar Nächte lang unter den Gefrierpunkt sinken, kann man auf dem See sogar Schlittschuh laufen …» Er hält inne, als im Flur Geräusche zu hören sind und sich kurz darauf die Tür öffnet.
Robert betritt die Küche. Den weißen Apothekerkittel hat er gegen eine hellbraune Cordjacke getauscht, unter der er einen sandfarbenen Pulli zu einer schwarzen Hose trägt. «Ah, du hast Besuch! Guten Abend, Frau Amberger, wie schön, dass Sie noch etwas Zeit haben», sagt er lächelnd.
Durch Roberts Erscheinen wird mir bewusst, wie spät es geworden ist. Ich fühle mich mit einem Mal ziemlich müde. «Für mich ist es längst Zeit», sage ich und erhebe mich.
«Bitte, bleiben Sie, ich wollte Sie nicht vertreiben», beteuert er. «Wir haben viel zu selten Gäste.»
«Ja, da muss ich Robert zustimmen. Bleib doch zum Abendessen, Ursel», drängt nun auch Friedrich. «Wie gesagt, ich koche ganz passabel.»
«Vielen Dank, das klingt verlockend», versichere ich. «Aber ich sollte mich besser ins Bett legen und meinen Infekt auskurieren, damit er sich nicht verschlimmert.»
«Ach so. Das verstehe ich natürlich», sagt Friedrich, wirkt aber dennoch enttäuscht. Höflich begleitet er mich zur Tür. Als er mir in den Mantel hilft, fragt er: «Was hältst du davon, wenn wir demnächst einmal rausfahren an den See? Zu einem winterlichen Spaziergang, und danach verlustieren wir uns in einem gemütlichen Gasthof. Sobald du wieder auf dem Damm bist, versteht sich.»
«Sehr gerne, Friedrich.» Als ich meinen Schal umbinde, überfällt mich plötzlich ein verwegener Gedanke. «Ich hätte da noch eine andere Idee …»
«Ja?»
«Wäre euer Wochenendhaus nicht eine wunderbare Paris-Alternative für Heiligabend?», frage ich mutig. «Ich könnte mich nach der Bescherung mit meinen Enkeln verdrücken, du müsstest Churchill nirgendwo unterbringen, und die Fahrt wäre ein Klacks …»
«Ursel!» Friedrich greift nach meiner Hand und blickt mir verträumt in die Augen. «Was für ein brillanter Einfall. Es ist herrlich romantisch dort und wenn das Kaminfeuer … Oh, vor lauter Begeisterung hätte ich beinahe vergessen, dass der Abzug nicht richtig funktioniert … Aber darum werde ich mich sofort kümmern … Mit etwas Glück entkommen wir zwei Weihnachtsopfer doch noch dem Stress.»
Auch wenn ich es nicht recht glauben kann, lächle ich Friedrich verzückt an. «Das wäre herrlich!»
18. Dezember, Mittwochnachmittag,
noch 6 Tage bis Weihnachten
Dank Friedrichs Wundertropfen habe ich tatsächlich die ganze Nacht beschwerdefrei geschlafen. Inklusive eines süßen Traums, in dem ich mit Friedrich in einen Zug gestiegen bin. Doch bevor ich wusste, wohin er fuhr, wurde ich leider wach, weil ich Durst hatte. Bei der Gelegenheit hab ich dann noch einmal die Tropfen eingenommen. Abgesehen von einem leichten Kratzen im Hals fühle ich mich wieder ganz gesund und habe großen Appetit auf ein reichhaltiges
Weitere Kostenlose Bücher