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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Klecksbildern frei assoziieren. Weil es vorzüglich klappte, machte mir dieses Spiel schließlich Spaß. Ich verschwieg ihm aber meine wirklichen Tagträume, in denen ich mir ausdachte, daß ich Coras Bruder heiraten würde und meine Ersatzeltern legal für mich verbuchen konnte.
    Eigentlich liebte ich den Bruder aus diesem Grunde, bevor ich ihn kannte. Er hieß ganz altmodisch Friedrich und studierte Physik. Cora gab zuweilen mit ihm an, er sei unwahrscheinlich intelligent, ein zweiter Einstein.
     
    Eine Woche vor Heiligabend holte die ganze Familie Schwab den verlorenen Sohn vom Frankfurter Flughafen ab, natürlich ohne mich, denn der Platz im Auto würde knapp, da viel Gepäck erwartet wurde. (Friedrich hatte nur eine Reisetasche bei sich.) Er wollte »Fred« genannt werden und teilte uns beim ersten gemeinsamen Essen mit, daß er so gut wie verlobt sei. Seine amerikanische Braut hieß Annie, trug auf dem Foto eine silberne Zahnspange und war vollschlank. Ich entwickelte einen gewissen Ehrgeiz, Fred seinen amerikanischen Traum vergessen zu lassen. Aber er schien mich kaum wahrzunehmen; er saß im übrigen gern mit Cora zusammen, und sie redeten über ihre Kindheit. Ich fühlte mich als fünftes Wagenrad. Friedrich war einige Jahre älter als Cora und nicht viel ernsthafter; in Liebesdingen, so schien mir, hatte Einstein das Pulver nicht erfunden. Sonst wäre ihm aufgefallen, daß ich ihm nicht zufällig in der Unterwäsche begegnete. Als Friedrich nach drei Wochen wieder abfuhr, hatte ich nur erreicht, daß er meinen Namen behalten hatte. Er hatte mit seinen Eltern vereinbart, daß er im Sommer mit Annie in die Toskana käme, damit wir alle seine zukünftige Frau kennenlernen konnten. Ich begann um meinen Ferienplatz zu zittern. Es waren bekanntlich vier Betten dort, und mit der Zahnklammer war man, ohne mich, schon zu fünft.
    Übrigens verlief mein erstes Weihnachten ohne Mutter und Carlo relativ unbeschwert, es gab nur wenig Geschenke, und das Fest wurde unsentimental und nicht sonderlich christlich gefeiert. Zuweilen spielte ich mit Cora und Friedrich bis zum Morgengrauen, und wir lachten herzlich. Beim Kartenspielen hielt ich Mogeln für selbstverständlich, und Cora betrachtete das ebenso. Friedrich wunderte sich, daß er nie gewann. Manchmal hielt er uns physikalische Vorträge von entsetzlicher Langweiligkeit. Wenn er mein Bruder gewesen wäre, hätte ich ihm Professors Sherry-Karaffe über das Gelehrtenhaupt gekippt.
     
    Als es langsam Sommer wurde, machte Coras Mutter einen Einkaufsbummel mit ihren »Töchtern«. Inzwischen wußte ich, daß der Professor zwar gut verdiente, seine Frau aber auch nicht arm war. Sie hatte eine Erbschaft zu erwarten und bekam, seit sie verheiratet war, eine Apanage von ihrem Vater, ihr »Schuh- und Strumpfgeld«. Von diesem Geld bezahlte sie unser aller Kleidung.
    »Wir müssen an Italien denken«, sagte sie, und ich schöpfte wieder Hoffnung, daß ich eingeladen war. Cora stellte sich eine rosa-rot-violett-orange Kombination zusammen, die zu ihren roten Haaren und den zu erwartenden Sommersprossen teuflisch aussehen mußte. Ihre Mutter entschied sich für eine raffinierte Mischung aus kühlem Meergrün und Lavendel.
    »Maja, du solltest Naturtöne tragen«, riet sie mir. Ich bekam einen sandfarbenen Baumwollpullover, ein kurzes rohweißes Leinenkleid und Shorts in Umbra. »Es fehlt noch etwas in Terrakotta oder Siena«, meinte sie.
    »Was ist das für eine Farbe?« fragte ich.
    »Warte nur«, sagte Cora, »wenn wir im Sommer in Siena auf dem Campo sitzen und Eis essen, dann wirst du diese Farbe nie mehr vergessen. Es ist ein warmes, rötlich-gelbes Braun. Die Häuser rund um den Campo glühen in diesen Farben so intensiv in der Abendsonne, daß du immer dort sitzen bleiben möchtest...«
    Ich erhielt eine dreiviertellange Hose in der Farbe Siena und die sichere Aussicht, sie im Sommer in der Toskana zu tragen.
    Kurz vor den großen Ferien erreichte mich zum ersten Mal ein Brief meiner Mutter (mein Vater hatte sich nie gemeldet). Sie schrieb sehr sachlich, es gehe ihr besser, aber sie werde nie mehr nach Hause zurückkommen, da unsere Wohnung mit zu vielen Erinnerungen belastet sei. Man könne es Onkel Paul nicht zumuten, weiterhin die Miete zu bezahlen, wenn dort keiner wohne. In der Kurklinik hätte man ihr angeboten, dort als Schwesternhelferin zu arbeiten und weiter psychotherapeutisch betreut zu werden, und sie habe das probeweise seit sechs Wochen getan. Eine

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