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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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gleichzeitig blieb aber ein Unbehagen zurück, weil mir diese Vergünstigungen nicht zustanden. Zwar war es ein freundliches und selbstverständliches Geben und kein gnädiges Gewähren, das meine neue Familie auszeichnete, aber was Cora als Tochter zustand, war keineswegs mein gutes Recht. Ich träumte zuweilen, daß man mich hinauswarf oder daß Cora mich leid wurde und ihren Eltern klarmachte, daß ich kein guter Umgang für sie war. Diese Ängste gründeten nicht auf Tatsachen. Coras Eltern behandelten mich fast wie eine Tochter und machten in materieller Hinsicht überhaupt keinen Unterschied. Aber aus meiner unterschwelligen Unsicherheit heraus, durch irgendein Fehlverhalten aufzufallen, hörte ich auf zu stehlen, war in der Schule aufmerksam und hatte nur noch gute Zeugnisse; vielleicht wurde ich für Cora ein bißchen langweilig, und sie hatte nicht so viel Spaß mit mir wie früher. Andererseits verstand sie, daß mir der Übermut nach jenem schwarzen Freitag vergangen war. Auch sie hatte am Verarbeiten dieses Traumas zu kauen.
    Mindestens einmal im Monat ging die Professorenfamilie kantonesisch essen. Es war ein Genuß für mich, wenn Coras Vater mit den Kellnern chinesisch plauderte und sich die Gäste an den Nebentischen neugierig und voller Bewunderung nach uns umdrehten. Auch Cora und ich sagten zu der Empfangsdame im geschlitzten Seidenkleid: »Ni hau!«
    Frau Schwab hatte rote Haare wie ihre Tochter, sah aber anders aus. Sie trug gern zarte, gebrochene Farben, lange Perlenketten und elegante italienische Schuhe. Wie gern wäre ich die Tochter dieser Eltern gewesen! Wenn mich fremde Beobachter dafür hielten, war das allein schon ein Hochgefühl.
    Coras Mutter, die sich nun intensiv um uns kümmerte, beriet uns gern in modischen Fragen und war dabei gar nicht auf den eigenen damenhaften Stil festgelegt. Cora lehnte alles ab, was ihrer Mutter gefiel, so daß die frustrierte Beraterin mehr und mehr Gefallen daran fand, mich einzukleiden. Wenn wir zu dritt einkaufen gingen, kam Cornelia mit einem Packen wilder Klamotten nach Hause, billigem Zeug, das schnell ausgedient hatte. Ich dagegen wurde geschmackvoll und viel teurer ausstaffiert, weil ich Qualität zu würdigen wußte. Leider kam es aber häufig so, daß Cora ihre Kleider nicht auf den Bügel hängte und kurz vor Schulbeginn nach meinen griff, als ob es keine Frage sei, daß meine Sachen auch ihre waren. Ihre Mutter lächelte zufrieden, wenn sie Cornelia in meiner beigen Leinenjacke sah, und manchmal kam mir der giftige Gedanke, daß sie letzten Endes doch nur ihre eigene Tochter auf dem Umweg über mich einkleidete.
    Wie lange konnte ich in dieser Familie bleiben?
    Ich malte mir aus, daß meine Mutter zurückkäme, versteinert und ins Leere blickend, und wir wieder zusammen in unserer trostlosen Wohnung leben müßten. Hin und wieder war ich für ein paar Stunden dort, saugte Staub, lüftete und versuchte, Carlos abgeschlossenen Schreibtisch aufzubrechen. Mein Therapeut hatte mir geraten, wenn ich das Bedürfnis hätte, Mutter zu schreiben, es auch in die Tat umzusetzen. Dreimal hatte ich dieses Bedürfnis, dann wich es einem Gefühl der Bitterkeit, denn sie reagierte nie. Von Onkel Paul erfuhr ich sporadisch, daß es ihr weiterhin schlecht gehe und man über einen Entlassungstermin nicht spekulieren wolle. Natürlich hoffte ich, Mutter würde irgendwann ein normaler Mensch (glücklich war sie wahrscheinlich nie gewesen), aber von mir aus konnte ihre Depression bis zu meinem Abitur dauern.
    Cora fing damit an, ihren Therapeuten zu testen. »Woher soll ich wissen, ob der Bursche etwas taugt?« fragte sie und erzählte ihm einen erfundenen Traum. Hinterher bekam ich zu hören, das sei die erste amüsante Therapiestunde gewesen.
    Der »Bursche«, der sich mit ihr abmühte, war ein milder und dicklicher Mann, der Cora forschend in die grünen Augen sah und nicht merkte, daß sie log. Mein Therapeut war viel strenger, ich durfte nicht abschweifen und traute mich anfangs nicht, ihm einen Bären aufzubinden.
    Cora sagte: »Ich habe nicht gewußt, daß du so feige bist.«
    Ihr zuliebe dachte ich mir den Traum vom Waldvöglein aus. Ich war ein Vöglein, das nachts wie ein Uhu zu hell erleuchteten Fenstern flog und die Menschen beobachtete.
    Meinem Therapeuten war sofort klar, daß es sich um die Freudsche Urszene handelte und ich in frühkindlichem Alter meine Eltern im Bett ertappt hatte. Immer wieder mußte ich mich entspannen und zu delikaten

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