Die Haischwimmerin
fiktive Figur abziele. Zumindest, wenn man wisse, daà der Spitzname für Giuseppe Gepetto laute. »Sie wissen schon, der Holzschnitzer, welcher Pinocchio erschaffen hat.«
»Eine Jungengeschichte«, meinte Lilli abfällig. »Das Frankenstein-Thema für Buben. Ich war bei der Pippi-Langstrumpf-Fraktion.«
Jetzt war es Madame Fontenelle, die nickte. Dann sagte sie: »Wir müssen zurück. Sie haben zu tun.«
»Vor allem brauche ich eine Liste der Pflückerinnen.«
»Die bekommen Sie.«
Im Gehen fragte Lilli: »Was ist mit Ihrem Dr. Ritter? Wir wissen, daà er in Kontakt mit dem letzten Opfer stand.«
»Er steht in Kontakt mit jeder Pflückerin. Das ist sein Job.«
»Schaut er sich die Zähne der Damen an?«
»Er schaut sich an, ob sie für den Job taugen.«
»Na, er sollte lieber bei den Gebissen bleiben. Ich meine, Sie haben gesagt, die vier toten Frauen hätten versucht, Teile der Lärchen nach drauÃen zu schmuggeln.«
»Es ist ein Verdacht, eine Vermutung«, äuÃerte Fontenelle, »um so mehr, als die erste Tote mit diesem Mann aus Ochotsk zusammen war, der die Proben weitergegeben hat und der jetzt ebenfalls tot ist. Aber wie gesagt, es ist ein Verdacht.«
»Na schön«, meinte Lilli, wie man meint, besser eine Lungenentzündung während der Arbeitswoche als mitten im Urlaub.
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Als die beiden Frauen aus dem Wald traten und hinüber zu dem modernen, dicht am felsigen Gewölberand stehenden kleinen Verwaltungsgebäude gingen, wartete dort Dr. Ritter mit Lillis Tasche. Sie nahm sie, schaute hinein, überprüfte das Vorhandensein ihrer Schminksachen und Parfüms und sagte: »Den Revolver können Sie behalten, aber geben Sie mir die Puppe. Das könnte helfen, den Puppenmacher zu finden.«
Dr. Ritter, der Mann mit der kreisbildenden, fünfpunktigen Narbe an der Wange, blickte zu Fontenelle. Diese nickte. Der magyarische Dentist verschwand kurz und brachte die aus weiÃen, braunen und schwarzen Teilen zusammengesetzte Fellpuppe. Lilli nahm sie. Zudem die Liste mit den Namen der Pflückerinnen.
»Ich bringe Sie zum Aufzug«, sagte Fontenelle. »Kommen Sie.«
Lilli kam. Ihr Gang war ein Lied, wie man es pfeift, wenn die Traurigkeit sich in ein Gedicht verwandelt.
18
Lilli saà auf der Toilette des winzigen fensterlosen Badezimmers und führte sich einen Tampon ein. Wenn zuvor gesagt worden war, ihr beschwingter Gang verwandle die Traurigkeit in ein Gedicht, so galt in diesem Moment, daà ihre Traurigkeit völlig frei von Poesie blieb. Es war eine kalte, namenlose Traurigkeit, eine umfassende Schwermut. Lilli fühlte sich allein gelassen. Natürlich könnte man sagen, daà die Wahrnehmung der eigenen Regelblutung auch schlecht geeignet war, gewissermaÃen geteilt zu werden, wie man Freude teilt oder Geld teilt, auch sehnte sich Lilli nicht etwa nach einem verständnisvollen Partner, der sich abmühte, ihre Depression zu verstehen, nein, das war es nicht, denn das Gefühl des Alleingelassenseins bezog sich auf ihr nie geborenes, unersetzliches Kind. Ein Kind, das jetzt bereits erwachsen gewesen wäre, selbst hätte Kinder haben können. Und sie, Lilli, hätte dann Photos mit sich getragen, Kinderphotos, Jugendphotos, Erinnerungen an die guten Tage, Erinnerungen an die schlechten Tage.
Lilli Steinbeck hätte viel darum gegeben, sich auch an solche schlechten Tage erinnern zu dürfen. â Richtig, sie hatte eine Adoptivtochter, Sarah, an die sie viel und gerne dachte, doch wenn ihre Menstruation einsetzte, war da kein Raum, um an Sarah zu denken. Vielmehr war da eine vollkommene Leere, und in dieser Leere ein dunkler Fleck, der sie füllte, die Leere.
Wie gut darum, beschäftigt zu sein. Lilli sah auf die Uhr, denn auch in Toadâs Bread existierte die Zeit, wenngleich etwa der Wandel der Jahreszeiten und der Wechsel von Tag und Nacht weniger spürbar wurde. Einer der Hotelangestellten hatte Lilli darüber informiert, Yamamoto wolle sie in der Gerichtsmedizin treffen. Stimmt, dort war man bereits gewesen, aber daran konnte sich der Samurai ja nicht mehr erinnern. Die Sache muÃte wiederholt werden, der Gang in den Obduktionssaal, die Betrachtung der Leiche, die Ausführungen einer sachverständigen Medizinerin (idealerweise eine andere als beim ersten Mal), die Beschreibung der übrigen Todesfälle, sodann
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