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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Ekel provozierend. Ivo rief aus: »Verdammt noch mal, soll das ein Scherz sein?«
    Â»Die Schatulle ist nicht leer!«
    Alle wandten sich um, um nach jener Person zu sehen, die diesen Satz gesprochen hatte. Nur Kallimachos nicht, der die Ansicht vertrat, es reiche vollkommen, darauf zu warten, daß etwas oder jemand in einer Position zum Stehen kam, die das eigene Umdrehen überflüssig machte. Sicherlich konnte man einwenden, daß so mancher von hinten erschossen wurde. Aber was nützte es denn, sich rechtzeitig umzudrehen und somit von vorne getroffen zu werden? Und folglich auch noch den moralischen Vorteil verspielt zu haben.
    Wie auch immer, bei dem Mann, der soeben erklärt hatte, die Schatulle sei entgegen ihrer augenscheinlichen Leere gar nicht leer, handelte es sich um Dr. Ritter.
    Ivo meinte nun, wobei er auf Ritters Bebrilltsein anspielte: »Brauche ich Ihre Zaubergläser, damit ich was erkennen kann?«
    Â»Nein, ein wenig Wasser genügt«, antwortete der Dentist.
    Â»Wie soll ich das verstehen?«
    Â»Wie ich sagte: Wasser. Schütten Sie etwas davon in die Schatulle, und Sie werden sehen.«
    Ivo gab Lilli ein Zeichen. Lilli griff in ihre Handtasche und zog eine Wasserflasche hervor. Dann trat sie zu Ivo, öffnete das Gefäß und tat wie geheißen. Dazu sagte sie: »Wasser ist meistens der Schlüssel.«
    Â»In der Tat«, meinte Dr. Ritter.
    Und jetzt sah man es. Nicht wie im Walt-Disney-Märchen, wenn sich unter einem Bogen glitzernder Sternchen ein Objekt materialisiert. Eher wie bei einem Polaroidphoto, wenn aus einem blassen Nebel die kräftiger werdenden Farben hervortreten und die Wirklichkeit als ein buntes Quadrat erscheint.
    Ein Ohr!
    Â»Mensch!« rief Ivo. Sein Ausspruch war kaum originell, aber nicht unpassend, weil es sich bei diesem unter einem Wasserstrahl sichtbar gewordenen Ohr wenigstens der Form nach um das eines Menschen handelte.
    Ein Ohr also. Das stellte geradezu einen Topos dar, nämlich Ohren in abgeschnittener oder abgetrennter Form, siehe van Gogh. Gewissermaßen existierte ein Van-Gogh-Syndrom: das theoretische Bedürfnis vieler Menschen, sich angesichts ihrer Sorgen und Nöte nicht nur die Haare, sondern auch die Ohren auszureißen.
    Oder das Ohr in David Lynchs süßlichem Gewaltepos Blue Velvet, wenn der jugendliche Held zu Beginn des Films ein solches im Gras findet und sodann die Ohrmuschel den Weg in die Tiefe menschlicher Verkommenheit weist. Oder das Hundeohr, das Garp, die Figur aus John Irvings gleichnamigem Roman, von einem Hund herunterbeißt, und zwar als späte Rache auf die gleichgeartete Attacke des beißwütigen Köters Jahre zuvor. – Ohren sind starke Symbole, wie man vielleicht sagen kann, Kirchtürme seien starke Symbole.
    Â 
    Â»Wie haben Sie das gemacht?« fragte Ivo den Mann, der wie er selbst über eine Lopuchinsche Markierung der Wange verfügte.
    Â»Ich habe gar nichts gemacht«, erklärte Dr. Ritter. »Das Wasser macht es. Das Wasser hebt die Tarnung des Ohrs auf.«
    Eigentlich hätte jetzt niemand Dr. Ritter zwingen können, sein Wissen preiszugeben, zu erklären, wieso da ein Ohr wie aus dem Nichts auftauchte. Aber er tat es freiwillig. Ganz wie im Falle eines Romans oder Films, wo für den Leser und das Publikum eine Erklärung geliefert wird, weil sich nur die wenigsten Autoren oder Filmemacher trauen, eine Entschlüsselung schuldig zu bleiben.
    Dr. Ritter wurde in diesem Moment also zum »großen Erklärer«. Er tat es wohl, weil er es genoß.

22
    Was Dr. Ritter zu berichten hatte, war das Folgende: Bei diesem Ohr handelte es sich entgegen der anatomischen Gestalt nicht um das eines Menschen, auch nicht um ein künstliches, wie es Genetiker aus dem Körper einer Maus hatten herauswachsen lassen, nein, dieses Ohr schien zu einer bislang namenlosen Spezies zu gehören, die bereits lange unter den Menschen lebte, allerdings über den Vorteil der Unsichtbarkeit verfügte. So, wie man das den Toten und Gespenstern nachsagte.
    Allerdings waren diese Wesen in keiner Weise übernatürlich. Sondern unerkannt, was etwas anderes ist. So unbeschrieben wie ihr genaues Aussehen blieb auch die Frage ihrer Herkunft. Ob man sie also als terrestrische Kreaturen ansehen mußte, die möglicherweise schon vor den Menschen existiert hatten, oder aber als eine außerirdische Lebensform, deren

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