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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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die Nachbarknochen, das ganz zentrale Knochenfeld. In ihrem Fall war der Begriff der »Trümmerfraktur« bestens angebracht. Diese Nase stand bildhaft für die Trümmer, die von Lillis Zukunftsträumen geblieben waren. Denn so beherrscht und bestimmt sie mit dem Verlust ihres Kindes auch umging, für sie war eine Welt zusammengebrochen. Sie gehörte ganz und gar nicht zu den Personen, die sich mit dem Spruch trösten wollten, in Zukunft noch viele Kinder bekommen zu können. Genau darum hatte sie den Arzt ja augenblicklich in die Schranken gewiesen, um sich genau diesen einen blöden Satz nicht anhören zu müssen.
    Die Nase also. Eine baldige Operation stand an, um einer Verfestigung der Trümmer zuvorzukommen. Allerdings wies der Arzt Lilli darauf hin, es würde mehrerer Eingriffe bedürfen, bis ihre Nase wieder vollständig hergestellt sei. (Wobei zu sagen wäre, daß die plastische Chirurgie natürlich nicht so weit war, wie sie es zwanzig Jahre später sein würde, während zum Beispiel die Marsforschung auch zwanzig Jahre später noch zur Hauptsache in den Kinderzimmern begabter Grundschüler stattfinden sollte.)
    Lilli war also ein Fall für die Wiederherstellungschirurgie geworden. Aber sie wollte gar nicht wiederhergestellt werden. Sie wollte nicht so aussehen, wie sie zuvor ausgesehen hatte. Wenn es ihr schon nicht vergönnt war, bei ihrem toten Kind zu sein – und Selbstmord kam für sie nicht in Frage –, dann war es ihr wichtig, wenigstens etwas von diesem Akt der Zerstörung bei sich zu behalten. Die vollständige oder beinahe vollständige Wiederherstellung, oder gar eine Verschönerung wären ihr als eine böse Lüge erschienen, als der Versuch, das Geschehene physiognomisch aus der Welt zu schaffen. Das Unglück zu leugnen, es aus dem Gesicht zu radieren. Und damit in letzter Konsequenz das gestorbene Kind zu verleugnen. Was sie nicht wollte. Weshalb sie nur jene medizinischen Eingriffe geschehen ließ, die nötig waren, um eine funktionierende Nasenatmung zu gewährleisten, nicht aber jene, die es ihr ermöglicht hätten, die Bildschönheit ihres Gesichts mittels einer neuen Nase zu unterstützen.
    Â»Ich will keine neue Nase«, pflegte sie zu sagen. Und im Grunde hieß das, ohne daß jemand dies ahnen konnte: Ich will kein neues Kind.
    Lilli Steinbeck wollte somit den Rest ihres Lebens mit einer Deformation an ungünstiger Stelle verbringen. Mit einer Nase, die wegen einer gewissen wirbelsäulenartigen Rippung und ihrer Verschiebung zur Stirn hin, durch die sich ein Höcker gebildet hatte, von einigen Leuten als »Klingonennase« apostrophiert wurde. Daß aber diese Verunstaltung sich in einem fortgesetzt hübschen Gesicht befand, welches nichts von seinem edlen, madonnenhaft hellen Ausdruck verloren hatte, schien vielen Leuten verwirrend, wenn nicht unheimlich. Darum nämlich, weil fast allen bewußt war, daß Lilli Steinbeck ja gar nicht gezwungen war, mit einer solchen Katastrophe im Gesicht herumzulaufen, wo doch die moderne und immer noch moderner werdende plastische Chirurgie es ihr ermöglicht hätte, eine Korrektur vorzunehmen und vom Klingonischen wieder zum Menschlichen zu wechseln.
    Wenn man nun aber weiß, daß Klingonen sich durch ihr kämpferisches Gemüt, ihr Ehrgefühl, ihre Betonung des Kriegerethos auszeichnen, zudem über einen organischen Überfluß verfügen, etwa das Vorhandensein mehrerer Mägen, und daß ihnen eine hohe Widerstandsfähigkeit und ein bei hundertfünfzig Jahren gelegenes Mindestalter gegeben sind, so ist es wahrscheinlich kein Nachteil, einen kleinen, vernünftigen Anteil an dieser als gewalttätig verschrienen Rasse zu besitzen.
    Nun, gewalttätig war Lilli ganz sicher nicht und wurde es auch im Zuge ihrer weiteren Ausbildung zur Kriminologin nicht. Eher ergab sich ein gewisses lebenslanges Kränkeln, ein bloßer Anflug von Krankheit, etwas Schnupfenartiges, Chronisches, Entzündliches. Aber vielleicht kann man es so ausdrücken: Mit ihrer Klingonennase war Lilli imstande, die Gewalt zu »riechen« und dabei die diversen Ausformungen olfaktorisch genauestens zu unterscheiden, niemals also die eine Gewalt mit der anderen zu verwechseln. Ihre Nase war ein klingonisches Labor.
    Nachdem sie eine ganze Weile mit ihrer Rekonvaleszenz zugebracht, eine Verletzung des Beins auskuriert und sich

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