Die Haischwimmerin
Abend.«
»Also, wie es ausschaut, ist sie aufgewacht und hat nach Ihnen gesucht. Sie muà sich angezogen haben und hinunter vors Haus gegangen sein. Dort hat sie dann gestanden, als ⦠ja, als der Wagen kam. Ein Wagen von auswärts, er ist aus der Kurve geraten â¦Â«
»Gott, was ist mit Lilli?«
»Ich weià nur, daà sie schwer verletzt wurde. Sie müssen mit dem Arzt reden. Kommen Sie.«
Aber der Arzt operierte noch. Eine andere Person, eine junge Kollegin, erklärte, daà man um Lillis Leben kämpfe. Sie habe innere Verletzungen davongetragen, viel Blut verloren, der Blutdruck sei extrem schwach, vor allem jedoch bestehe ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Der Begriff der Hirnquetschung allerdings fiel nicht. Doch genau das war ja das Problem mit dem Hirn: sein kabinettartiges Eingeschlossensein, von einem Knochen geschützt und gleichzeitig in diesem gefangen zu sein. Das ist wie mit einer guten Mutter, die einen nicht losläÃt. Das Hirn ist auÃerstande auszuweichen, dann, wenn der Schädel attackiert wird und seine Knochen eine Deformation erfahren. Eine solche Deformation hatte sich zugetragen. Lilli war von dem schlitternden Wagen getroffen und gegen die Stange einer StraÃenlaterne geschleudert worden, wo sie mit dem Gesicht voran aufgeschlagen, zur Seite gestürzt und sodann auch noch mit der rechten Stirnhälfte gegen eine harte Kante geprallt war.
»Sie befindet sich derzeit im künstlichen Koma«, erklärte die Ãrztin.
»Sie ⦠ist schwanger. Lilli ⦠wir ⦠bekommen ein Kind«, sprach Ivo aus einem toten Mund.
Die Medizinerin bià sich auf die Lippen, als wollte sie mit ihren Vorderzähnen ein kleines Gebet in die dünne Lippenhaut ritzen. Dann sagte sie: »Es wird alles für Ihre Freundin getan. Wir sind hier bestens ausgerüstet. Der operierende Arzt ist mein Chef. Er ist der beste Chirurg weit und breit. Ich würde das nicht sagen, wenn es nicht so wäre. Es ist ein Glück, daà er gerade im Haus war, als man Ihre Freundin eingeliefert hat. Haben Sie Vertrauen, bitte!«
Vertrauen? Nun, was sollte der beste Arzt nützen, fragte sich Ivo, wenn der liebe Gott sich längst entschieden hatte, böse zu sein? Nicht, daà Ivo sich wirklich einen bösen noch einen guten Gott vorstellen konnte. Er tat sich bloà schwer, angesichts der Absurdität der Umstände so etwas wie Vertrauen zu entwickeln. Eher kam es ihm vor, als sei er Opfer eines teuflischen Plans, dessen Sinn ganz sicher nicht darin bestand, am Ende all dieser Verkettungen einem irdischen Krankenhausarzt den Triumph zu lassen, ein Leben gerettet zu haben.
»Kommen Sie«, sagte die Ãrztin, »ich bringe Sie in ein Zimmer, wo Sie allein sind.«
Nun, ganz alleine blieb er nicht. Einer der Polizisten stellte sich vor die Tür des kleinen Raums, in dem Ivo jetzt saà und auf ein Glas Wasser starrte. Der andere Polizist gab in der Zwischenzeit den eben eingetroffenen Kollegen von der Kripo einen ersten Bericht. Die Identität des Jungen stand bereits fest. Es handelte sich um das älteste Kind einer fünfköpfigen Familie, die ein Haus am Rande von Giesentweis bewohnte. Ein Abschiedsbrief war im Zimmer des Fünfzehnjährigen gefunden worden. Ein Allerweltsschicksal: Schulprobleme. Natürlich bringen sich nicht alle um, die schlechte Noten haben oder nicht so gute, wie ihre Eltern verlangen. Aber die Not, die die Schule verursacht, ist derart gewaltig, daà es eigentlich eine Versicherung gegen die Schule geben müÃte, eine Bildungsversicherung, welche die Schäden an der Gesundheit der Kinder und der Eltern und nicht zuletzt des Lehrkörpers abdeckt (die meisten Lehrer bräuchten eine Elternversicherung). Jene wiederum, die von der Schule nicht zerstört werden, sondern sie bestens zu überstehen scheinen, sind entweder unverbesserliche Frohnaturen, oder aber man müÃte mal deren Herzen röntgen lassen. Wahrscheinlich würde man ziemlich dunkle Brocken zu Gesicht bekommen. â Ausgerechnet diese Brocken bilden dann die Säulen der Gesellschaft, weshalb die Gesellschaft so aussieht, wie sie aussieht.
Die Sache war also klar, ein Suizidversuch, während die Umstände, die zu der Lebensrettung geführt hatten, lange nicht so eindeutig ausfielen. Die Kripobeamten nahmen die Sache sehr viel genauer als die beiden Uniformierten, welche oft
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