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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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gezwungen waren, die Kunst des Wegsehens zu praktizieren. Oder wenigstens die Menschen ein wenig zu verstehen. Kriminalbeamte hingegen scherten sich einen Dreck um die Personen, mit denen sie es zu tun hatten, Opfer wie Täter, sondern waren ganz der Sache an sich verpflichtet, dem, was sie die »Wahrheit« nannten. Kripobeamte waren Kreuzritter.
    Freilich wurde Ivo zunächst einmal in Frieden gelassen. Er bangte um Lillis Leben. Immerhin, wenigstens der Junge, sein Name war Moritz, befand sich bereits außer Lebensgefahr. Doch war das wirklich ein Glück zu nennen? Denn leider Gottes stand nicht nur sein Überleben fest, sondern gleichermaßen, daß er nie wieder völlig gesund werden würde. – Was heißt »völlig gesund«!? Vielmehr war es so, daß er ziemlich beschädigt aus dieser Gerade-noch-Rettung seines Lebens hervorgehen sollte. Seine Zukunft würde darin bestehen, lallend in einem Rollstuhl zu sitzen.
    Ivo sollte sich später, wenn er Moritz sah, und er sah ihn oft, jedesmal fragen, ob er, hätte er noch einmal die Chance dazu, die sofortige Rettung unterlassen würde. Ob er dann also nach einer Leiter schauen oder erst die Polizei alarmieren würde und so weiter, um folglich zu spät zu kommen und auf diese Weise dem Jungen seinen Willen zu lassen. Aber wahrscheinlich würde er eher versuchen, schneller zu sein als beim ersten Mal, früher in die Halle mit der Kletterwand zu gelangen, früher nach oben zu steigen. Ja, die eigene »Entführung« aus der Wirtsstube sowie die Rettung des Jungen derart rasch zu bewerkstelligen, um in der Folge rechtzeitig wieder zum Hotel zurückzukehren und damit auch Lilli vor ihrem Schicksal zu bewahren.
    Aber obgleich man zweimal stirbt, leben tut man bloß einmal. Keine Zeitmaschinen, keine Was-wäre-wenn-Spiele.
    Immerhin ergab es sich auch ohne Was-wäre-wenn, daß Lilli die Operation überstand. Sie kam durch. Freilich auch sie nicht unbeschadet, wie sich denken läßt. Sie verlor ihr ungeborenes Kind. Als man sie aus dem künstlichen Koma holte und nachdem sie wieder ansprechbar war, setzte sich der Arzt, der sie gerettet hatte, zu ihr ans Bett. Noch bevor er zu reden beginnen konnte, legte Lilli sich einen Finger senkrecht an die Lippe (beziehungsweise berührte der Finger den Gesichtsverband, der ihre Gesichtsmitte dominierte). Der Arzt verstand. Er schwieg. Dann aber bedeutete Lilli ihm, sich zu ihr hinunterzubeugen. Auch das tat er, sein Ohr an ihren Mund haltend, an den schmalen Schlitz, aus dem nun an den Nähten vorbei Lillis Stimme im warmen Atem hochstieg. In kleinen, dünnen Worten beschrieb sie dem Arzt, es sofort gespürt zu haben, noch während der Unfall geschehen war und auch danach, im Koma liegend, daß ihr Kind tot sei. Wobei sie sich frage, wie man da überhaupt denken könne, im Koma.
    Â»Das Koma war künstlich«, erklärte der Arzt. »Das ermöglicht uns, einen Rhythmus zu gewährleisten, ein Verhältnis von Tag und Nacht, eine zeitweise Reduktion der Schlaftiefe. Der Patient ist dann beinahe wach, registriert Bewegungen, Stimmen, registriert den eigenen Körper.«
    Â»Registriert die Kürettage«, sagte Lilli, jetzt sehr viel kräftiger sprechend.
    Der Arzt richtete sich wieder auf, nickte.
    Â»Sehen Sie bitte zu«, bat Lilli, »daß … niemand soll mich wegen des Kindes ansprechen. Auch mein Freund nicht. Ich will nichts verdrängen, aber … es gibt Dinge, wo jedes Wort ein Wort zuviel ist.«
    Der Arzt war froh, Lilli in diesem geistig klaren Zustand zu begegnen, was eigentlich ein Wunder war. Ihr Gehirn schien nicht die geringsten Folgeschäden zu zeitigen. Kein Gedächtnisverlust, keine Sprachstörung, außer jener, die sich vorerst aus den Gesichtsverletzungen und den starken Medikamenten ergab.
    Auch er, der Arzt, war der Meinung, daß manche Dinge sich im gesprochenen Wort vergifteten, über die bereits gegebene Vergiftung hinaus. Manches allerdings war unvermeidbar. Genau das sagte der Arzt auch, er sagte: Ȇber Ihre Nase müssen wir aber schon sprechen.«
    So unverfälscht Lilli den Verlust ihres Kindes erkannt hatte, so wenig war ihr bewußt geworden, eine schwere Nasenfraktur erlitten zu haben. Fraktur war eigentlich ein viel zu mildes Wort. Man mußte es wirklich so formulieren: Ihre Nase war Matsch. Nicht nur das Nasenbein war betroffen, auch

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