Die Haischwimmerin
daà Ivo Berg, nachdem sein ungeborenes Kind gestorben war und die wieder gesundete Lilli ihn verlassen hatte, sich nicht etwa zurück in die römische oder wenigstens österreichische Sicherheit begab oder eine mit Elterngeld finanzierte Expedition in Angriff nahm, sondern sich entschloÃ, in Giesentweis zu bleiben. Sich niederzulassen und in das Haus zu ziehen, welches Lilli geerbt hatte. Er gedachte es anzumieten, doch Lilli wollte kein Geld, obgleich sie damals durchaus welches benötigt hätte. Aber sie vertrat die Meinung, gewisse Dinge dürfe man nicht verkaufen und andere nicht kaufen . Tat man es dennoch, sei dies eine Sünde. Also schenkte sie ihm das Anwesen.
So geschah es tatsächlich, daà Ivo Berg in das Kucharsche Haus zog, ein vielleicht hundert Jahre altes Gebäude mit einer groÃen Scheune und einer kleinen Werkstatt, woraus sich quasi ein loser Dreikanthof ergab, in dessen Hofmitte ein alter Baum aufragte. Dieser Baum sollte Ivos Leben maÃgeblich verändern und prägen. Zunächst aber stand er einfach nur da, wie Bäume das zu tun pflegen, als könnten sie nicht bis drei zählen. Aber einem jeden sei versichert: Das können Bäume ganz sicher und noch ein biÃchen mehr.
Zunächst freilich herrschte Bestürzung in der kleinen Stadt darüber, daà Ivo blieb. Der ganze Fall war übel genug. Die ermittelnden Kripobeamten bestanden auf einer genauen Untersuchung, so daà jene jungen Frauen und jungen Männer gezwungen waren, zu den Vorfällen besagter Nacht Auskunft zu geben. Zwar hatten sie sich in dem einen Punkt abgesprochen, Ivo hätte vollkommen freiwillig an der illegalen Schwimmbadparty teilgenommen, aber Ivos eigene Aussage sowie diverse Widersprüche relativierten den Begriff der Freiwilligkeit. Es wurde klar, daà man Ivo unter Androhung von Gewalt gezwungen hatte, mitzukommen. Andererseits erkannten auch die Kripobeamten, wie sehr es allein diesem Zwang zu verdanken gewesen war, daà in selbiger Nacht ein halbwüchsiger Schulversager überlebt hatte. Allerdings in einer Weise, deren einziges echtes Plus darin bestand, nicht mehr zurück an seine alte Schule zu müssen.
Letztendlich begnügten sich aber auch die Kriminalbeamten damit, einen Untersuchungsbericht abzufassen, der sich kaum eignete, Anklage gegen wen auch immer zu erheben. Wobei weder Lilli noch Ivo bezüglich des Unfallfahrers irgendeinen Zorn verspürten. Sie sahen in ihm bloà einen willenlosen Baustein der fatalen Ereignisse, kaum schuldiger als der Laternenpfahl und die Bordsteinkante und die Bedingungen des Wetters in dieser Nacht.
Anders war das mit den jungen Leuten, die Ivo gezwungen hatten mitzukommen. Sie waren auch ohne Klage Angeklagte. Sie fühlten die Schuld. Die ganze Stadt fühlte diese Schuld und empfand es gleichzeitig als Impertinenz, wie sehr Ivo durch sein Hierbleiben einen jeden Giesentweiser an das erinnerte, was sich zugetragen hatte. Man war überzeugt, Ivo wolle sich auf diese Weise rächen, so wie man überzeugt war, er würde nach einiger Zeit genug von der Rache haben und Giesentweis wieder verlassen. Da aber täuschten sie sich. Sosehr sie Ivo mieden oder ihm bürokratische Fallen stellten, blieb dieser unbeirrt. Er setzte sich fest. Daà er die Leute damit ärgerte, störte ihn zwar nicht, war aber mitnichten ein Beweggrund. Eher könnte man sagen: Er war gestrandet. Und kein Gestrandeter sucht sich den Strand aus.
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Zwei Jahre nachdem dies alles geschehen war, lernte Ivo eine gewisse Freifrau von Wiesensteig kennen, die in Stuttgart lebte, aber in Giesentweis ein kleines Sommerhaus besaÃ. Die Freifrau war zugleich auch Freidenkerin, so aristokratisch wie aufgeklärt und noch einige andere Widersprüche vereinend. Eine beeindruckende Person, siebzigjährig, fast zwergenhaft klein, dennoch imposant, allein in der Art, wie sie ihren Kopf trug, beziehungsweise schien es so, als trage der Kopf sich selbst und lenke den restlichen Körper gleich einem Automobil. Ãberhaupt gemahnte die Freifrau an jene Damen aus den zwanziger Jahren, die Autos und Abenteuer zu den ihren gemacht hatten, den Luxus zum Kunstwerk, das Kunstwerk zum Alltag. Die Freifrau fungierte als Präsidentin eines »Vereins zur Förderung der Freiheit im Kopfe und im Geiste« und veranstaltete postmoderne Séancen, in denen sowohl die Teilnehmer als auch die teilnehmenden Geister auf
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