Die Haischwimmerin
plump göttlich. Die Leute hier waren keine Idioten wie unsereins, die wir die Religion gleich einer ErmäÃigungskarte fürs staatliche Museum in der Geldbörse verwahren (und ja doch nicht ins Museum gehen). Diesen Menschen hingegen war die Religion ein so bitterer wie süÃer Ernst. Und genau darum betrachteten sie Kallimachos gleichzeitig als ihren spirituellen Führer und ihren Gefangenen.
Wohin hätte Kallimachos auch flüchten können, in dieser Gegend, wo man einmal pro Kilometer auf zwei Zehntel Mensch traf?
6
Ivo hing soeben in den Seilen, in der Art der Bergsteiger, als würde er einen Ãberhang von der Unterseite her beturnen. Aber es war nun mal kein Felsen, von dem er da waagrecht baumelte, sondern die mächtige alte Rotbuche, die weit ausladend den Innenhof des Kucharschen Anwesens einschattete. Vom grellen Sonnenlicht des Tages drangen nur Splitter und Funken bis zur ausgetretenen Bodenfläche, wo die wenigen Flecken schwächlich herumzuckten, als berichteten sie vom Aussterben jeglicher Tanzkultur. Das meiste Licht aber verfing sich im dichten Gewebe der Blätter und Ãste. Hier gehörte es fast zur Gänze dem Baum.
»Hallo!« rief der Mann, der eben in den Hof getreten war, zu jenem am Seil Hängenden hinauf. Es war Dr. Kowalsky, der vor zwanzig Jahren das Bezirksnotariat geleitet hatte, um dann wenig später eine eigene Anwaltskanzlei zu eröffnen. Für einen kurzen Moment war er berühmt geworden, weil er einen bekannten FuÃballer in einem Mordfall, einer Eifersuchtsgeschichte, vertreten und einen Totschlag erwirkt hatte, gleich einem, der aus einem Glas Wein den ganzen Alkohol herausargumentiert. Aber vom Gipfel dieser Berühmtheit war er rasch wieder zurückgefallen in den Alltagstrott aus Geschäftsverträgen und Erbschaftsstreitereien.
Obgleich er ja von der Wut der Menschen lebte, fragte er sich manchmal, woher sie kam, ob auch sie ein Erbe darstellte, mehr noch als die Häuser, die der eine an den nächsten abgab. Jemand erbte ein Haus und erbte die Wut dazu. Erst im nachhinein suchten diese Leute nach einem Grund für ihre Wut, um die Wut nicht so allein und sinnlos dastehen zu lassen. Wenn einer seine Frau schlug, so muÃte er hernach ein auslösendes Moment dafür finden. Ein solches fand sich immer, niemand wuÃte das so gut wie Kowalsky. Nun, bis zur Pensionierung blieben ihm noch knapp zwei Jahre, und er war froh um ein Einkommen, das es ihm ermöglicht hatte, eine kleine Kunstsammlung anzulegen, viel Mittelalterliches, aber auch einige moderne Meister. Die Kunst war seine Liebe und sein Trost. Wäre die Kunst nicht gewesen, er hätte sich umgebracht.
Und da stand Dr. Kowalsky also im Schatten der Rotbuche, an diesem klaren, noch etwas kalten Märztag, jedoch ohne Mantel und Hut, und rief zu einem Mann hoch, mit dem ihn zwar kein freundschaftliches Verhältnis verband, aber doch ein freundlicher Umgang, während der Rest der Gemeinde bis zum heutigen Tag einen Bogen um Ivo Berg machte.
Ivo vollzog zwischen den Seilen einen gestreckten Ãberschlag rückwärts, was nicht wirklich einem Zweck diente, sondern bloà dokumentieren sollte, wie perfekt er sich zu bewegen verstand. Und zwar ganz im Gegensatz zu Dr. Kowalsky, diesem blassen Menschen im dunklen Anzug, der aber ebensogut als dunkler Mensch in einem blassen Anzug durchgegangen wäre. Anzug und Mensch schienen fortgesetzt ihren Platz und ihre Rollen zu vertauschen, ja sich zu verwechseln, ohne darum aber verwirrt zu sein. Die Verwechslung, die Unwissenheit, wer hier Anzug und wer hier Mensch war, führten eher zu einer groÃen Stabilität. Zu einer Verfestigung andauernder Unklarheit. Wie man sich in manchen Gegenden und zu manchen Jahreszeiten an den ständigen Wechsel des Wetters gewöhnt und diesen schluÃendlich als das eigentliche Wetter begreift. Es ist also nicht so, daà der April nicht weiÃ, was er will, er weià es sogar ganz bestimmt. Und auch Dr. Kowalsky wuÃte bei aller Skepsis sehr genau, was er wollte.
Federnd landete Ivo auf der Erde. Er war noch etwas dünner und drahtiger als vor zwanzig Jahren, das Gesicht kantiger, aber auch gesünder, wobei diese Gesundheit salbungsvoll die Traurigkeit seiner Augen umgab, das Dunkle und Abgründige, genau das, was so stark bei den Frauen wirkte. Sie begriffen diese Dunkelheit als eine Art goldene Fassung, in die sie selbst sich
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