Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
wenig von seiner dunklen Fülle verloren. Ein paar Sonnenstrahlen fielen auf das Land, als wollten sie es kartographieren. Nicht, daß viele Leute sich für eine Karte von Ochotsk interessieren würden. Diese Ansiedlung städtischen Typs hatte schon einmal bessere Zeiten erlebt. In der Ära der Sowjetunion und vor allem dank des Hafens und einer boomenden Fischereiwirtschaft war der im 17. Jahrhundert als Kosakenwinterlager gegründete Ort ständig gewachsen. Aber damit war in den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Schluß gewesen, die ja für so vieles das Ende bedeutet hatten. Das wird einmal der Anteil der neunziger Jahre an der Geschichte sein, nicht nur das Ende des Sozialismus, eigentlich das Ende von fast allem bewirkt zu haben, da ja nicht allein die sozialistische, sondern dank der bakteriellen Übermacht der Kapitalmärkte in Folge auch die bürgerliche Gesellschaft zugrunde gegangen war. Es gab nirgends mehr noch Bürger. Bloß Leute, die einen Tagtraum vom Bürgersein träumten.
    Nun gut, in Ochotsk war der Zusammenbruch natürlich ein offenkundigerer. Die Hälfte der Bewohner hatte den Ort verlassen, dessen locker verstreute Holzhäuser wie gegerbt anmuteten, von Wind und Wetter zu Leder verarbeitet. Auch die meisten Menschen schienen zu Leder verarbeitet worden zu sein. Sie hatten ihre ursprüngliche Haut eingebüßt und waren im Zuge diverser Demütigungen und Härten und sozialer Prozesse in Hüllen aus Leder verwandelt worden. Hatten somit aber auch eine gewisse Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit entwickelt. Doch um jetzt wieder den Tiervergleich zu bemühen: Ein intaktes Rind schaut einfach lebendiger aus als noch so schöne Rindslederhandschuhe.
    Allerdings waren die Straßen stark belebt, so, als sei die im Ort zurückgebliebene Bevölkerungshälfte, immerhin ein paar tausend Leute, bemüht, den Schwund mittels Zentrierung und Verklumpung wettzumachen, wie bei einem Filmset, wenn man mittels einiger Dutzend eng aneinandergedrängter Komparsen sowie geschickter Kameraführung den Eindruck eines überfüllten Platzes erzeugt.
    Ãœberall standen Leute herum und handelten, ohne daß sichtbar wurde, womit eigentlich. Wirkliche Waren waren kaum zu sehen. Und das viele verrostete Zeug konnte es wohl kaum sein, was hier einer dem anderen verkaufte. (Wobei anzumerken wäre, daß in Zeiten extremer Wirtschaftskrisen, dort, wo gar nichts mehr geht, eine Art symbolischer Handel existiert, Handel mit wertlosen Sachen, für die nicht wirklich bezahlt wird oder bloß mit Spielgeld oder Steinen oder eigenen kleinen Zeichnungen, ganz wie bei Kindern. Dieser Handel macht natürlich niemanden satt, aber sosehr der Mensch vom Brot lebt, lebt er eben auch von seinen Aktivitäten, zumindest vom Schein der Aktivitäten. Lieber sinnlosen Handel treiben als gar keinen.)
    Immerhin sah Ivo einen Fischmarkt, und einmal erblickte er eine schwarze Limousine, die freilich auf dieser vom Schneematsch aufgeweichten Straße fremdartig wirkte. Als sei sie aus einem Flugzeug, das sich auf dem Weg nach Chabarowsk oder Wladiwostok befunden hatte, herausgefallen. Nirgends war ein Gebäude zu finden, das die Existenz dieses Automobils begründet hätte. Keine Villa, kein Waldorf-Astoria oder dergleichen.
    Spirou lenkte den Roller auf die Nordseite der Stadt, die das Ufer der Flußmündung bildete. Ivo staunte einigermaßen, als man vor einem Lenin-Monument eine Pause einlegte.
    Â»Schön, nicht?« meinte Spirou geradezu verträumt und erzählte, das Denkmal sei im letzten Jahr wieder aufgebaut worden.
    Â»Bist du Kommunist?« fragte Ivo offen heraus.
    Â»Ich bin Spirou«, sagte der Junge.
    War das eine Antwort? Nun, wahrscheinlich war es eine. Also gab Ivo Frieden, betrachtete noch ein wenig den hoch auf seinem Sockel stehenden Lenin, der die Hand ausgestreckt hielt, vielleicht zum Gruß, vielleicht zum Aufruf, vielleicht, um den Himmel zu tragen. Ein Mann der Mißverständnisse. Von seiner Gestalt her eher ein impressionistischer Maler, wie Renoir. Und vielleicht sollte man die ausgestreckte Hand als die eines Malers deuten, der den Himmel eben nicht stützt, sondern malt.
    Hinter dem Monument erstrahlte ein weißes Verwaltungsgebäude im Licht der kartographierenden Sonnenstrahlen. Einige Männer standen auf dem weiten Platz und handelten. Womit auch immer.
    Spirou und Ivo

Weitere Kostenlose Bücher