Die Haischwimmerin
stiegen wieder auf das Motorrad und fuhren noch ein Stück in Richtung einer zugefrorenen FluÃmündung. Man hielt vor einem Gebäude, das nicht aus Holz war, somit auch nicht ledern anmutete. Allerdings ebenfalls etwas Gegerbtes an sich hatte. Gegerbter Beton. Zwei ebenerdige Komplexe bildeten einen rechten Winkel. Auf einem der Gebäude thronte eine mächtige Satellitenschüssel, auf dem anderen mehrere kleine Antennen. Teile der AuÃenwände waren gefliest, wobei zwei der Mosaike â das eine stellte eine Rakete dar, das andere einen Ringplaneten â in demselben Rotorange gehalten waren wie Spirous Haar. Was ja mal vorkommen kann.
»Hier sind wir«, sagte Spirou und ging daran, nun doch einen der Koffer aus dem Anhänger zu heben. Beinahe hätte Ivo geglaubt, der kleine Rotschopf wäre auf wundersame Weise ebenso kräftig, wie er perfekt deutschsprachig war. Aber er war nicht kräftig. Sein Körper war allen Ernstes erst dreizehn Jahre alt.
»Ich mach das schon«, sagte Ivo, nahm dem stöhnenden Kind das Gepäck aus der Hand, und gemeinsam begaben sie sich zu einer dunkelgrün lackierten Metalltüre, auf der in kyrillischer Schrift etwas stand, das Spirou mit »Das Herz des Weltalls« übersetzte.
»Schöner Name«, kommentierte Ivo.
Sie betraten das Haus. In einem kleinen, vollkommen kahlen Raum standen Dutzende von Gummistiefeln, an denen der Schlamm eines letzten Sommers in versteinerter Form klebte. In einer Ecke lehnten Angelrouten. Ãberhaupt roch es stark nach Fisch. Aber das tat es fast überall in Ochotsk. Allerdings roch es anders, als man das von europäischen Häfen gewohnt war. Es roch weniger nach totem Fisch, eher nach lebendigem. Als würden hier nicht die Vögel durch die Luft fliegen, sondern die Fische, als seien die Angelruten eine bloÃe Reminiszenz, während man in Wirklichkeit die Fische vom Himmel schoÃ. Ivo fiel ein surrealistisches Gemälde ein, auf welchem der Himmel von Fischen bevölkert wurde. DalÃ? Nein, Max Ernst. Ja, er fühlte sich hier wie in einem Max-Ernst-Land. Dunkel und merkwürdig, aber kein Traum.
Der Fisch freilich, der sich im nächsten, weitgestreckten Raum befand, war tot. Er lag in groÃe Stücke geteilt in einem Kessel und kochte vor sich hin. Vor dem Herd stand eine Frau in dicken pinkfarbenen Wollstrümpfen. Stimmt, sie hatte nicht allein diese Strümpfe an, sondern auch einen karierten Rock und eine dunkelgrüne Kapuzenjacke mit dem Signum irgendeiner amerikanischen Universität. Aber es waren nun mal die Strümpfe, welche diese Frau, nicht nur ihre Beine, dominierten. Zumindest von hinten. Was sich vorerst nicht ändern sollte, da sie auch beim Eintreten Spirous und Ivos fortgesetzt in der Fischbrühe rührte. Daà sie dabei rauchte, konnte Ivo nicht sehen, da ihr die Kippe im Mundwinkel steckte und der Qualm sich mit dem hochsteigenden Suppendampf vermischte.
Vorbei an der Rückseite der Frau, vorbei an Fahrrädern, die mitten im Raum standen, gelangte man in einen düsteren Flur, der zu beiden Seiten in kleinere Zimmer führte. In eines davon bat Spirou den Gast.
»Hier können Sie schlafen. Ich habe aufgeräumt für Sie. Ich habe die Bettlaken gewaschen. Ich habe auch die Wände neu gestrichen.«
Ja, das konnte man riechen. Es roch nach Chemiefabrik. Fisch und Chemie. Aber war das nicht ohnehin die Verkörperung des russischen Fernen Ostens?
»Ich danke dir, Spirou«, sagte Ivo, der sich vorgenommen hatte, so oft als möglich den Jungen bei seinem selbstgewählten Namen zu nennen. Dieses Geschenk wollte er ihm machen.
Nicht, daà Ivo ein Freund der Kinder war, er war ein Freund der Bäume. Den Gedanken, wenigstens im Ansatz einst ein Vater gewesen zu sein, hatte er erfolgreich verdrängt. Und um Frauen mit einem ausgeprägten Kinderwunsch hatte er stets einen groÃen Bogen gemacht. Kinder waren ihm in all den Jahren gleichgültig geblieben. Mit einer Ausnahme. Für jenen Moritz, den Jungen, den er vor dem Tod bewahrt und dem er solcherart ein behindertes Leben beschert hatte, für diesen Jungen hatte er ein Gefühl der Zuneigung entwickelt. Beziehungsweise auch für dessen Mutter, die ihr Kind, das niemals mehr ein Erwachsener werden würde, im Rollstuhl durch Giesentweis schob. Mit dieser Frau war Ivo intim geworden, nicht aus Liebe, das kann man nicht sagen, sondern aus
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