Die Haischwimmerin
einer Verbundenheit, ähnlich der, welche Menschen empfinden, die an der gleichen schweren Krankheit leiden. Sowenig nun echte Liebe im Spiel gewesen war, war Ivo dennoch in einer so überaus zärtlichen und einfühlsamen Weise dieser Frau begegnet wie zuvor sonst nur Lilli. Und auch dem lallenden, sabbernden, mit einem fremden spiralartigen Blick in die Welt schauenden Moritz war Ivo bei gemeinsamen Spaziergängen vertraut geworden, sich mittels Grimassenschneiderei mit dem Kind austauschend, seine Haut und sein Kopfhaar berührend, die Hand haltend, sprechend, kommunizierend. Andererseits muà schon gesagt werden, daà Ivo stets das Gefühl gehabt hatte, er unterhalte sich mit einem hirnlosen, aber zu Affekten fähigen Medizinball. Eingedenk der ins Rundliche verwandelten Kopfform des ehemals schlanken Jungen. Sowie eingedenk der vielen Medikamente, die Moritz zu schlucken bekam, der Schmerzen wegen oder der Ruhigstellung wegen, so genau wuÃte man das nicht.
Warum aber rührte ihn nun dieser Junge namens Spirou? Weil er ohne Eltern war, weil er mit seinen dreizehn ein knatterndes Moped fuhr und Ausländern als Führer diente? Weil er sich in die Vorstellung geflüchtet hatte, ein Comicheld zu sein? Weil er trotz der Kälte diese dünne, fleckige Livree trug, mit drei goldenen Plastikknöpfen drauf? Weil er die Bettlaken gewaschen hatte, wozu scheinbar sonst niemand willens gewesen war? Schon gar nicht diese Frau drüben beim Herd mit ihren pinkfarbenen Strümpfen. Weil er Deutsch gelernt hatte, perfekt gelernt hatte, nur um einen Comic zu verstehen, der bereits 1960 entstanden war?
Warum auch immer, Ivo mochte diesen Jungen. Genügend jedenfalls, um dessen Namenswahl, dessen Alter ego ernst zu nehmen.
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»Wollen Sie sich ein wenig ausruhen?«, fragte Spirou. »Oder soll ich Sie gleich zu Professor Oborin bringen?«
»Professor wer?«
»Er war einmal an der Universität ein wichtiger Mann dort«, erklärte Spirou. »In Kiew. Als sie dann bei uns das Loch gegraben haben, ist auch der Professor gekommen. Vor dreiÃig Jahren. Die anderen sind aber wieder fort. Nur der Professor ist geblieben.«
»Freiwillig?«
»Ich glaube, sie wollten ihn nicht mehr haben in Kiew. Alle, die noch hier sind, sind hier, weil man sie anderswo nicht will.«
»Und du?«
»Ich warte auf etwas.«
»Auf was denn?«
»Mir ist von einer Frau, die Schamanin ist, einmal gesagt worden, ich soll in Ochotsk bleiben, ich soll da warten. Da wird mein Glück kommen. Also bleibe ich in Ochotsk und warte. Ich glaube, ich weià sogar, woraus mein Glück sein wird. Die Schamanin hat gesagt, daà das gut so ist, es zu wissen. Nur dann kann ich es erkennen, das Glück.«
Ivo unterlieà es, nach der Art des Glücks zu fragen, dessen ungefähre Gestalt Spirou zu kennen meinte. Statt dessen erkundigte er sich nach dem »Loch«, von dem die Rede war.
Spirou antwortete: »Es heiÃt, es sei drüben in den Bergen. Ich weià nicht, wo genau, der Professor redet nicht so gerne davon. Niemand bei uns redet gern darüber. Ich kann auch nicht sagen, wieso man es gegraben hat, aber es soll sehr tief sein. Man sagt, es ist das tiefste Loch der Welt.«
Das tiefste Loch der Welt? Ivo wuÃte, daà man zu Anfang der siebziger Jahre, als die Sowjets noch an den Sieg ihres operettenhaften Heldenmenschen, an die Eroberung des Weltalls geglaubt hatten und eben auch an die Eroberung des Erdinneren, daà man damals auf der Halbinsel Kola begonnen hatte, ein ultratiefes Loch zu graben, und in späterer Folge â bereits jenseits der Sowjetträume, 1994 â in eine Weltrekordtiefe von über zwölftausend Metern vorgestoÃen war. Allerdings hatte Ivo nie davon gehört, es wäre seither ein noch tieferes Loch entstanden. Zudem war ihm unbekannt â und eine diesbezügliche Suche im Internet hätte nichts daran geändert â, es hätte je in Russisch-Fernost eine solche Bohrung stattgefunden und somit in der Gegend des Dschugdschur ein derartiges Superloch existiert. (Freilich, gerade die Sowjetrussen waren, ähnlich wie ihre Aufrüstungsfreunde, die Amerikaner, Spezialisten für das Inoffizielle gewesen. Im Inoffiziellen hatten sie die eigene Wichtigkeit noch sehr viel stärker empfunden als mittels ihrer groÃangelegten Militärparaden und offiziellen
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