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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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steckte es sich in den Mund. Ohne zu zögern.
    Als man sich kurz darauf die Rucksäcke umschnallte und losmarschierte, da ging es Ivo schon wesentlich besser. Allerdings bemerkte er nach und nach, daß die morgendlichen Farben sich veränderten, einen Glanz erhielten, eine Frische, als sei die Welt erst ein paar Minuten alt. Was ja auch stimmte, wenn man den anbrechenden Tag bedachte. Es freilich in dieser Deutlichkeit wahrzunehmen war wohl jenem Ding zu verdanken, an dem Ivo noch immer kaute. Schlucken wollte er es nicht. Um so mehr, als er auch die Geräusche des Waldes, in den sie nun eindrangen, in einer extremen Deutlichkeit vernahm. Extremer wollte er es gar nicht haben.
    Immerhin erinnerte sich Ivo, wieso er überhaupt hier war. Einer Lärche wegen, welche auf den kolorierten Zeichnungen, die der verstorbene Ochotsker Hüttenbesitzer angefertigt hatte, in genau der kegelförmigen Gestalt abgebildet war, wie man sie von den bekannten Varietäten kannte. Auch die Blätter verfügten über die übliche nadelige Form, die an den Kurztrieben in Bündeln zusammenstanden. Es war darum erneut die Farbe, die den Ausschlag gab, vorausgesetzt, die Tönung beruhte nicht auf künstlerischer Freiheit, sondern war tatsächlich nach der Natur gemalt worden. War dies der Fall, so würde es bedeuten, daß der Stamm dieser unbekannten Lärchenart weder die rotbraune Färbung der jungen Jahre noch den grauen Ton des gealterten Baums besaß, sondern in demselben auffälligen Purpur erstrahlte, mit dem die weiblichen Zapfen in der ersten Zeit ausgestattet sind, bevor sie ins Bräunliche überwechseln. Ein Baum mit einer solchen Borke würde natürlich ähnlich stark auffallen wie diese Kühe, von denen manche Kinder meinen, sie seien von Geburt an violett. Auf eine solche farbliche Extravaganz zu stoßen, hoffte Ivo. Gesichert war dies freilich nicht. Gesichert schien allein der starke, abstoßende Geruch, den die ölige Ausscheidung junger Zapfen verursachte, ohne daß aber klar war, auf welche Distanz hin das menschliche Geruchsorgan ihn registrieren konnte. Auch verfügte Ivo über keine Analyse dieser Substanz. Die hatten die Bremer für sich behalten und allein den Hinweis gegeben, der Gestank könne als »aasartig« bezeichnet werden, vergleichbar dem der Stinkmorchel, zudem sei die Absonderung durchsichtig und von rotbrauner Farbe, aber definitiv kein Harz. Harz bildete sich, um eine Wunde zu verschließen. Dieses Sekret hingegen diente dazu, eine unerwünschte Wunde gar nicht erst geschehen zu lassen, willkommene Insekten anziehend, unwillkommene abstoßend. Auch war die Konsistenz etwas flüssiger als bei Harz.
    Ivos Plan bestand darin, zuerst einmal den Baum zu finden, Proben sämtlicher Teile zu entnehmen, die neue Varietät eingehend abzulichten und zu skizzieren, sodann nach Ochotsk zurückzukehren und in Oborins Labor eine eingehende Analyse sowie eine präzise Erstbeschreibung vorzunehmen. Als Arbeitsnamen verwendete er den Begriff »gefährliche Lärche«, nicht nur wegen der olfaktorischen Abwehrmechanismen der Pflanze, sondern weil diese ganze Geschichte in einem gefahrvollen Kontext stand. Doch erst, wenn der Baum wirklich gefunden, ausgegraben und nach Deutschland geschafft sein würde, und erst im Zuge eines Okays aus Bremen, wäre er in der Lage, die von dem Sibirienforscher Johann Georg Gmelin benannte Lärchenart um seinen eigenen Namen zu bereichern. Was ihm nun in der Tat einiges bedeutete, auch wenn er damit zunächst einmal bloß Teil der botanischen Nomenklatura wurde. Sollte sich aber herausstellen, daß die Absonderungen dieses Baumes allen Ernstes …
    Nach und nach verschwand nicht nur der Kopfschmerz, sondern auch die leichte halluzinogene Wirkung dessen, woran Ivo gekaut hatte. Er nahm das Stück Haut aus dem Mund, warf es aber nicht fort, sondern steckte es sich in die Hosentasche. Diese ganze Landschaft war alles andere als eine Wegwerflandschaft, die sich eignete, angekaute – somit verunreinigte – Was-auch-immer-Häute aufzunehmen.
    Die drei Wanderer drangen nun tief in das bewaldete Tal, dort, wo noch die Nacht hockte, wie um den aufkeimenden Tag zu überstehen. An dieser Stelle würde die Schwärze nie ganz vergehen. Um so mehr wäre ein in Purpur aufleuchtender Stamm aufgefallen. Aber einzig und allein die jungen Zapfen trugen diese

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