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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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deutlichen Risse und das von den Wänden rinnende Wasser zeigten, wie sehr jeder Ingenieurskunst ein Vergänglichkeitsgen innewohnt. Das absolute Privileg der Natur ist nämlich, daß sie Zeit hat und niemals auf die Idee kommt, auf die Uhr zu schauen, um panisch festzustellen: »Mein Gott, es ist zu spät!« Für die Natur ist es nie zu spät.
    Die Röhre führte in einen hohen Gewölberaum hinab, in dem mächtige alte Maschinen herumstanden, verrostete Ungetüme, Fossilien einer Epoche, da man gemeint hatte, absolut alles erobern zu können. Die gute Nachricht war, daß noch immer die Entlüftung und die Elektrik funktionierten. Die in Metallgitter eingefaßten Leuchtkörper bildeten einen Lichtkranz, der dem Raum eine zusätzliche sakrale Note verlieh. Nach zwei Seiten öffneten sich riesige Bögen, durch die man in weitere Räume gelangte. Hinter dem größten dieser Torbögen, der in eine absolute Schwärze wies, lag jenes tiefe Loch, das die Russen gegraben hatten, ohne daß jemand sagen konnte, wie tief genau sie gekommen waren. Denn dies war auch für die Bewohner von Toad’s Bread ein Geheimnis. Sie mieden das Bohrloch. Fast alle meinten, die Röhre führe direkt in die Hölle, bilde wenigstens einen senkrechten Stollen, durch den man ins Reich der Toten gelange. Ein Reich, um das zu betreten man logischerweise lieber tot sein sollte. Denn ein Lebender im Reich der Toten wäre natürlich als Monster empfunden worden, als ungeliebter »Zombie«, so wie ja auch umgekehrt die Toten in der Welt der Lebenden nur schlecht gelitten sind. Mit ihnen telephonieren ist freilich etwas anderes.
    Auf der entgegengesetzten Seite zum Bohrloch lag der Eingang, der hinüber in die unterirdische Stadt führte. Ein Eingang von mehreren, wie Kallimachos erklärte, aber der größte. Man begab sich also in jene mächtige beleuchtete Tunnelröhre, in der zwei Autostraßen Platz gefunden hätten. Um so erstaunlicher, daß diese Röhre sich zusehends und ohne ersichtlichen Grund stark verjüngte, geradezu einen Darmverschluß bildend, eine Verkrampfung. Es wurde so eng, daß Kallimachos gezwungen war, von seiner Sänfte zu steigen, beziehungsweise hob man ihn herunter. Da stand er also auf seinen eigenen Beinen, wobei der mächtige Unterleib und die gewaltigen Oberschenkel sich zu den Schuhen, den Schühchen, hin ähnlich radikal verjüngten wie der Stollen, in dem man sich gerade aufhielt. Man reichte Kallimachos einen schwarzlackierten Gehstock mit silbernem Handgriff. Ein locker in die Brusttasche gefügtes Einstecktuch leuchtete aus dem Schwarz des Jacketts. Auch sein Gesicht leuchtete. Wie Papier, das im Dauerlicht einer Schreibtischlampe einen gelblichen Stich angenommen hatte. Stimmt, da waren noch seine Augen, die aber, bedrängt vom Schatten der wulstigen Augenhöhlen, ständig die Farbe wechselten. Es hätte schon einer eingehenden Studie bedurft, festzustellen, inwieweit das Blau, Braun oder Schwarz, das Grau oder Grün, die vielen rötlichen Abstufungen, die Herbst- und Wintertöne, die Farbe des Wüstensandes oder das Purpur eines jungen Lärchenzapfens diese Pupillen jeweils mehr oder weniger dominierten. Nur eines war sicher, daß diese Äuglein ständig im Dunst einer tropischen Feuchtigkeit standen, einer flachen, dichten Tränenwand.
    Das eigentliche Wunder aber war, daß Kallimachos seine Beine bewegen konnte. Nicht, daß er jetzt wie aus einem Jungbrunnen hochschoß und zu rennen anfing. Aber dank des Stocks und dank einer Ewenkin, die sich in seinem freien Arm eingehakt hatte, setzte sich Kallimachos in Bewegung. Langsam, in der Art einer Dampfmaschine. Im Keuchen begriffen, brannte die Glut der Zigarette in seinem Mund noch rascher.
    Die Sänfte hochgestellt und letztendlich im Gänsemarsch drängte sich die Gruppe zwischen den schmal stehenden, nur noch spärlich beleuchteten Wänden. Sollte je eine militärische Einheit beauftragt werden, Toad’s Bread zu stürmen, wäre man gut beraten, nicht durch diesen angeblich größten Eingang in die Stadt einzufallen.
    Hatte man bislang nur die eigenen Stimmen und die Stimme des Windes vernommen, so wuchs nun eine polyphone Geräuschkulisse an, ein heftiger Tonknäuel. Kallimachos und seine Leute gelangten durch einen letzten Spalt auf einen Platz, einen Markt voller Menschen.
    Â»Wow!«

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