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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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staunte Ivo. »Ich dachte mir das kleiner.«
    Hinter der belebten Fläche breitete sich zu beiden Seiten und zur hohen Gewölbedecke hin ein aus verschachtelten Gebäudeteilen bestehendes Gebilde aus: ein wabenartiges Konstrukt, aber keines, das zu den disziplinierten Honigbienen gepaßt hätte, eher ein von Hummeln geschaffenes – Hummeln auf Speed. Es war offensichtlich, daß hier eine architektonische Einheit auf die andere gesetzt worden war, eine Wohnung auf die andere Wohnung, kleinere auf größere und umgekehrt, so daß Nischen entstanden waren, in die man weitere Wohnwaben gezwängt hatte. Es schien, als halte nicht eine gewollte Statik dieses Konglomerat zusammen, sondern die Zufälligkeit sich gegenseitig stützender Würfel: Spielsteine, die von wilden Hummeln in aller Eile hingespuckt worden waren. Architektur als Unfall, aber als funktionierender.
    Das Gebilde, das an manchen Stellen über fünfzehn, sechzehn Stockwerke aufragte, endete knapp unterhalb einer Betondecke, in die mächtige Luftturbinen eingelassen waren. Auch hier wehte ein konstanter Wind, ein warmes, feuchtes Blasen, das alles und jeden umfing. Der Wind drang in die Ohren und Nasen und preßte sich durch das Gewebe der Kleidung. Keiner, der nicht schwitzte.
    Der ebenerdige Bereich wurde von vielen kleinen Läden bestimmt, zwischen denen schmale Gehwege in das Innere der Stadt führten. Dunkle Schächte, die mit winzigen Laternen ausgestattet waren, welche eine geringe leuchtkäferartige Aufhellung mit sich brachten. Wer sich hier bewegte, hatte sich entweder an die Dunkelheit gewöhnt oder war im Besitz von Taschenlampen. Die freien Plätze hingegen, die sich entlang der äußeren Ränder der Stadt, aber auch in ihrem Zentrum ergaben, lagen im Schein starker Spots, wo-durch ein Licht- und Schattenspiel wie auf einem Drehset entstand. Massenszenen! Die Energie dafür, wie für alles andere in diesem »Krötenbrot«, bezog man aus einem tiefer gelegenen Erdwärmekraftwerk. Wohin dagegen der Müll kam, war nicht so leicht zu sagen. Der Müll war allgegenwärtig. Denn entweder herrscht der Müll oder die Müllräumung. Wenn letztere existierte, dann im verborgenen.
    Keine Frage, Toad’s Bread erinnerte stark an jene legendäre Stadt Hak Nam (auch die »Ummauerte Stadt« genannt), einen so gut wie autonomen Stadtteil auf der Halbinsel Kowloon, in dem das organisierte Verbrechen über sein eigenes kleines steuerfreies Paradies verfügt hatte. Ein »Paradies«, in dem über dreißigtausend Menschen zuletzt so eng wie nur möglich gelebt hatten, bevor es 1993 einer Stadtsäuberung zum Opfer gefallen war. Nun stand dort ein properer Park. Und das Elend war woanders.
    Gut möglich, daß einige Menschen, die in der Kowloon Walled City auf die Welt gekommen waren, jetzt in Toad’s Bread lebten. Dem Ruf des Vertrauten folgend. Nur, daß die Ummauerte Stadt eine offizielle Verbrecherrepublik gewesen war und die »vergrabene« Stadt eine geheime. Und noch etwas unterschied diese beiden Orte ganz wesentlich: Kowloon Walled City war fast ausschließlich von der chinesischen Kultur und Sprache und Schrift und Kriminalität geprägt gewesen, während in Toad’s Bread die Einflüsse verschiedener Völker und eine durchmischte Kriminalitätskultur das Bild bestimmten. Das konnte man sofort sehen an den Schildern der Geschäfte: das Nebeneinander der verschiedenen Schriftzeichen, wobei die japanischen, chinesischen sowie die Zeichen des kyrillischen Alphabets dominierten, aber gleichfalls lateinische, griechische und arabische zu sehen waren. Zudem eine Vielzahl an Piktogrammen: Kreuze, Hände, Tiere, Zahlen, Kinder, Frauen, Durchgestrichenes, Freigegebenes, dazu die obligaten Totenköpfe. (Totenkopfbilder sollte man ganz allgemein nicht nur an den Einfahrten zu Chemiefabriken aufstellen, sondern ebenso an den Pforten verschiedener Supermärkte. Vor allem aber in sämtlichen Parfümerien. Nirgends ist der Tod von Tier und Mensch manifester.)
    Supermärkte und Parfümerien freilich waren hier nicht zu sehen. Dafür viele kleine Restaurants und Straßenküchen, die die äußeren Fronten der viereckigen Stadtverdichtung beherrschten. Neben japanischen und chinesischen Suppenbars existierten thailändische Garküchen und indische Kneipen. Was hingegen fehlte, waren Pizzerien. Die

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