Die Haischwimmerin
Mantel bringen dürfe, sie scheine zu frieren.
Kein Wunder, Lilli trug ein aus vielen schwarzen Wollfäden locker über die Haut gespanntes Kleid, das eher ein Netz war. Nur um die Brust und den Unterleib war ein durchgehender grasgrüner Streifen gespannt. Ihre langen strumpflosen Beine â weniger dünn als früher, aber immer noch dünn genug â mündeten in schwarze Stiefel mit cremefarbenen Schnallen: Pirate Boots von Vivienne Westwood. Lillis Haare hatten nun wieder ihre natürliche wangenrote Farbe, nur eine kleine Spur dunkler: ein gealtertes Rot, aber in keiner Weise gebrechlich oder müde.
Obgleich Lilli in der Tat fror, lehnte sie es ab, sich mittels Mantel verunstalten zu lassen. Zu frieren war sicher blöd. Aber sich häÃlich machen zu lassen war noch sehr viel blöder. Die Wahrscheinlichkeit, hier einen Kältetod zu erleiden, war trotz allem gering. Da war es viel wahrscheinlicher, demnächst an etwas wie einem kälteunabhängigen Gerinnsel oder einem plötzlichen Versagen des Herzens zu sterben. Und Lilli wollte in keinem Fall schlecht angezogen sein, wenn der Tod nach ihr griff. Sie stellte sich den Tod als den letzten, den ultimativen Kritiker vor.
Im Moment aber stand sie jenem japanischstämmigen Kriminalpolizisten gegenüber, der den Namen Yamamoto trug. Das war nicht sein wirklicher Name. Er nannte sich so nach dem Autor des elfbändigen Hagakure, das als der Ehrenkodex der Samurai gilt. Der Polizist Yamamoto folgte den Bestimmungen eines Werkes, welches mit dem bemerkenswerten Satz beginnt: »Ich habe herausgefunden: Bushidô, der Weg des Kriegers, liegt im Sterben.«
Yamamoto gehörte also zu denen, die nicht das eigene Ãberleben im Sinn hatten, sondern in ständiger Erwartung des Todes lebten, ihn als Vorzug begreifend, und solcherart ihrem Fürsten dienten. Der »Fürst« war für Yamamoto aber keiner der kriminellen Führer der Stadt, sondern die Stadt selbst, ihre Erhabenheit, ihre gottgleiche Fähigkeit, fast alles in sich zu vereinen. Dieser fürstlichen Erhabenheit der Stadt widmete der Polizist die eigene unbedingte Ergebenheit.
Lilli wuÃte um diese Einstellung ihres Kollegen. Denn ihr Kollege würde er in diesem speziellen Fall nämlich sein. Die Verwaltung von Toadâs Bread hatte Lilli so höflich wie bestimmt nach Toadâs Bread kommandiert. Und als »Gefangene« der ewenkischen Separatisten war sie gezwungen gewesen, diesem höflich-bestimmten Ruf zu folgen. Daà sie nun aber mit einem Mann zusammenarbeiten sollte, welcher der grundsätzlichen Devise folgte, einen Tod zu wählen, ohne sein Ziel erreicht zu haben, mache diesen Tod frei von Schande, »auch wenn andere ihn sinnlos oder wahnsinnig nennen mögen«, fand sie schon ziemlich bedenklich.
Na, mal sehen, dachte sich Lilli, ob ich diesen Mann kurieren kann. Sie hatte schon einige Männer kuriert, und es sollten in Zukunft noch weitere dazukommen.
»Hier drüben«, sagte Yamamoto und bat Lilli, ihm zu folgen.
Sie traten an einen der Obduktionstische. An der Kopfseite wartete eine junge Ãrztin mit weiÃem Kittel und blauer Schürze. Ihr Blick verriet, daà sie die längste Zeit nicht zum Schlafen gekommen war. Sie stand da wie ein schiefer Turm â man könnte auch sagen: wie ein schiefer Traum. Ihre Gesichtshaut besaà nur unwesentlich mehr Farbe als die des Leichnams, der auf der metallenen Oberfläche lag und bis zum Hals mit einer Plane bedeckt war.
»Das letzte Opfer«, erklärte Yamamoto, auf die tote Frau auf dem Tisch weisend, dann erst stellte er die lebende Ãrztin vor, eine Jakutin, die nun mit einer schwerelosen Armbewegung die Plane vom Körper der Toten zog. Vom Kehlkopf abwärts bis zur Bauchmitte führte eine grobe Naht, die die beiden Teile der geöffneten Rumpffront zusammenhielt.
»War das der Mörder? Oder waren Sie das?« fragte Lilli.
»Das waren wir«, sagte Yamamoto, »die Obduktion hat ergeben, was auch für alle anderen Opfer gilt, sie wurde ertränkt. Zuerst ertränkt, dann fürsorglich gereinigt. Wobei es ja heiÃt, das Ertränken sei ein Prozeà der Reinigung. Wegen des Wassers halt.«
»SüÃwasser, um genau zu sein«, präzisierte die Ãrztin. Und präzisierte weiter, beim Ãffnen des Brustkorbes sei das massiv überblähte Gewebe hervorgequollen, was als ein Hinweis
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