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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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offiziell in Toad’s Bread, und es entsprach durchaus einem dieser Klischees, die so wuchtig wie unverrückbar in der Welt stecken und der Wirklichkeit ihren Stempel aufdrücken, daß es sich bei jenem Dr. Lajos Ritter um einen … ja, einen Zahnarzt handelte. Auch er betrieb seine Praxis im grünen Distrikt. Yamamoto ließ sich die Adresse geben. Denn eine solche existierte, obgleich nirgends Straßenschilder oder Hausnummern zu sehen waren. Aber die Menschen waren gewohnt, sich mit ungefähren Angaben einem Punkt zu nähern, sich von der Schwerkraft dieses Punktes anziehen zu lassen – seiner speziellen Abstufung innerhalb der Farbskala. Überhaupt kann man sagen, daß die Bewohner von Toad’s Bread das besaßen, was man als sechsten Sinn bezeichnet, auch wenn sie über nur eine Seele verfügten. (Zumindest war dies die Anschauung jener, die an die schamanistische Drei-Welten-Kosmologie glaubten und dabei meinten, Toad’s Bread gehöre zum Reich der Unterwelt, in welcher die Bewohner im Unterschied zu den mit drei Seelen ausgestatteten irdischen Personen bloß mit einer einzigen Seele versehen waren.)
    Einseelig und sechssinnig also!
    Jedenfalls hatte Yamamoto keine Schwierigkeiten, in dem Labyrinth aus Gassen und Gäßchen einen Hauseingang zu finden, an dem entgegen der allgemeinen Schäbigkeit ein bedrucktes Acrylglas recht nobel und heutig die Existenz einer Zahnklinik verriet. Nach einer okkultisch angehauchten Praxis sah es nicht aus. Sie lag hoch oben, im vierzehnten Stockwerk.
    Das Stiegenhaus war verdreckt und eng und von den Interventionen seiner Benutzer geradezu vernarbt. Leitungen hingen aus dem Gemäuer. Ein Kabelsalat, gedärmartig. Dazu Musik und Stimmen aus Löchern und offenen Türen. Auf den Treppen saßen Kinder, warfen sich Bälle zu oder ließen Modellautos über Schanzen springen. – So, wie es Kinder gibt, die noch nie richtigen Schnee oder eine richtige Kuh gesehen haben, hatten diese hier noch nie einen Spielplatz gesehen. Und ob sie je Schnee oder Kühe … Dennoch schienen sie vergnügt und in keiner Weise feindselig, als jetzt die beiden Erwachsenen an ihnen vorbei nach oben stiegen.
    Das Türschild am Eingang hatte nicht zuviel versprochen. So verrottet das Treppenhaus auch sein mochte, als Lilli und Yamamoto jetzt im obersten Stockwerk ankamen, gerieten sie in eine vollkommen andere Welt. Die Wände verwandelten sich, waren nun so weiß wie rein. Die in der Decke des Empfangsraums versenkten quadratischen Leuchtkörper versprühten mildes Licht. Aus unsichtbaren Lautsprechern bröselte Klaviermusik. Im silbergrau glänzenden Bodenbelag spiegelte sich die Gestalt der Eintretenden, als würden sie über Eis laufen. Eine Sprechstundenhilfe saß hinter einem Tisch, dessen Metallbeine derart dünn waren, daß man sie von mancher Stelle aus gar nicht wahrnehmen konnte und deshalb einen schwebenden Tisch vermutete. Die Frau selbst hingegen war deutlicher erkennbar. Sie schaute fragend zu Lilli und Yamamoto hoch, dann auf eine Liste und meinte, daß für diese Uhrzeit kein Termin vermerkt sei.
    Â»Kriminalpolizei«, verkündete Yamamoto. »Ich möchte gerne mit Dr. Ritter sprechen.«
    Â»Haben Sie sich angemeldet?«
    Â»Ich melde mich jetzt an.«
    Â»Der Herr Doktor hat einen Patienten.«
    Â»Das ist bei Ärzten nicht unüblich«, meinte Yamamoto, »und bei Polizisten wiederum ist es nicht unüblich, auf einer sofortigen Behandlung zu bestehen.«
    Â»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte die Sprechstundenhilfe und erhob sich.
    Lilli faßte ihr sanft an die Schulter und betonte: »Setzen Sie sich, wir finden schon allein hin. So viele Räume sind es ja nicht.«
    Richtig, es war nicht schwierig, den Praxisraum ausfindig zu machen, der hinter einer illuminierten Milchglasscheibe lag. Ohne zu klopfen, traten Yamamoto und Steinbeck ein.
    Dr. Ritter war zwar nicht allein, aber keineswegs damit beschäftigt, irgendwelchen Zähnen ein hübscheres Aussehen zu verleihen oder ihnen ein gnädiges Ende zu bereiten. Er saß abseits seiner Folterinstrumente in einem weißen Lederfauteuil, ihm gegenüber eine Frau, eine äußerst gepflegte ältere Dame in einem eleganten Lagerfeld-Kostüm. Zwischen Arzt und Frau, auf dem Tisch liegend … nun, es schien sich um eine Puppe von der gleichen Art wie jener

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