Die Hand die damals meine hielt - Roman
schwer. Es gelingt ihr kaum, die Beine durchzudrücken, und sie hat Angst, dass sie ihr wegklappen, oder dass etwas, das sie in sich trägt, aus ihr herausfällt. Sie klammert sich an die Armlehne, Ted greift blitzschnell nach ihrer Hand, und zusammen hieven sie sie hoch.
Getrieben von dem überwältigenden Verlangen, das Kind anzusehen, schleppt sie sich, leicht vornübergebeugt, durch
das Zimmer zu ihm hinüber. Dieser Drang ergreift sie in regelmäßigen Abständen. Sie muss sich überzeugen, dass es noch da ist, dass sie nicht alles nur geträumt hat. Dass es noch atmet und wirklich so wunderschön ist, wie sie es in Erinnerung hat, so unglaublich vollkommen. Unter Schmerzen - sicher ist es bald wieder Zeit für eine Tablette - beugt sie sich über das Moseskörbchen und späht hinein. Da liegt der Kleine, in eine Decke gehüllt, die geballten Fäustchen neben seinen Ohren, die Augen fest zusammengekniffen, die Lippen kraus gezogen, als ob er sich seiner Aufgabe, dem Schlafen, mit all dem Ernst und all der Konzentration widmet, die sie verdient. Sie legt ihm die Hand auf die Brust, und obwohl sie weiß und sieht, dass es ihm gut geht, ist sie erleichtert. Er atmet, er lebt, er ist noch hier.
Sie geht in die Küche, hält sich am Herd fest. Sie ist wütend auf sich. Wieso hat sie immer Angst, dass er stirbt? Dass er ihr entgleitet, aus diesem Leben rutscht? Sei nicht so hysterisch, schimpft sie mit sich, während sie die Regale nach der Teekanne absucht. Mach dich nicht lächerlich.
Am nächsten Morgen liegt das Malermesser neben dem Sofa auf dem Boden. Als Elina sich hinkauert, um es aufzuheben, fällt ihr Blick auf den durchhängenden Stoff unter dem Polstersitz. Doch sie sieht noch mehr: Münzen, eine Sicherheitsnadel, eine Garnrolle, eine alte Haarspange von früher. Sie überlegt, ein Lineal zu holen oder einen Kochlöffel, um die Sachen herauszufischen - was sie bestimmt machen würde, wenn ihr ein gepflegter Haushalt am Herzen läge. Doch das ist nicht der Fall. Andere Dinge im Leben sind wichtiger. Wenn sie sich bloß erinnern könnte, was für Dinge das sind.
Sie steht auf. Erneut durchschießt sie der sengende Schmerz. Vielleicht wäre das jetzt der Moment, Ted anzurufen
und ihn zu f ragen, Ted, warum habe ich da diese Narbe, was ist passiert, du musst es mir sagen, denn ich weiß es nicht mehr.
Aber jetzt würde es ihm bestimmt nicht passen. Er sitzt gerade im Schneideraum - in seiner Höhle, wie sie es immer nennt - und entfernt die misslungenen Stellen aus den Filmen, damit am Ende alles glatt und fehlerlos ist. Und wer weiß, vielleicht fällt es ihr ja doch noch ein, vielleicht erinnert sie sich ja doch von selbst wieder daran. Seit sie mit den Dreharbeiten in Verzug geraten sind, seit das Kind da ist, steht er permanent unter Druck. Sein Gesicht ist blass und eingefallen, wie immer, wenn er krank oder gestresst ist. Sie will ihn wirklich nicht noch zusätzlich belasten.
Sie geht ans Fenster. Das Wetter ist immer noch nicht besser geworden. Seit Tagen hat es nicht mehr aufgehört zu regnen. Der Himmel ist verschwommen und aufgedunsen, der Garten aufgeweicht. Um sie herum tickt das Haus im Rhythmus des Wassers: auf den Dachziegeln, in den Regenrinnen, in den Rohren.
Vorher, als sie noch schwanger war, haben sie sonniges Wetter gehabt. Wochenlang. Elina saß in ihrem schattigen Studio, die Füße in einem Eimer mit kaltem Wasser. Ihre Jogaübungen am Morgen machte sie draußen, wenn das Gras noch tauf risch war. Sie aß Grapef ruits, manchmal drei Stück am Tag, zeichnete Ameisen, aber eher geruhsam und ohne ein konkretes Bild im Sinn zu haben, sah zu, wie ihre Bauchdecke Wellen schlug. Sie las Bücher über natürliche Geburt. Schrieb mit Zeichenkohle Listen mit Kindernamen an die Studiowände.
Elina steht am Fenster und sieht in den Regen hinaus. Auf dem Bürgersteig geht ein Nachbar mit seinem Hund in Richtung Park. Sie kann nicht ergründen, nicht begreifen,
was mit dem Menschen von damals passiert ist, mit der Elina der Namenslisten, der Ameisenzeichnungen, der natürlichen Geburten, der Wassereimer im kühlen Schatten. Wie ist sie zu der geworden, die sie jetzt ist - eine Frau im fleckigen Schlafanzug, die weinend am Fenster steht, eine Frau, die sich beherrschen muss, dass sie nicht durch die Straßen läuft und schreit, kann mir bitte, bitte jemand helfen?
Elina Vilkuna, sagt sie sich vor. So heißt du. Das bist du. Sie muss sich auf Bekanntes beschränken, auf Fakten. Vielleicht
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