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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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weg und sinkt zu Boden. Das Rot hebt sich von dem weißen Teppich deutlich ab. Nachdenklich legt Elina den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Sie blickt auf das Kind, das den Mund bewegt, als ob es ihr etwas mitteilen möchte. Zu dem Schal sieht sie nicht noch einmal hin, aber sie hat noch genau vor Augen, wie er durchs Zimmer gesegelt ist.
Irgendwie erinnert sein Flug sie an etwas, das sie erst kürzlich gesehen hat. Und dann weiß sie es plötzlich. Blutspritzer. Auf ihre Art wunderschön. In dem blitzweißen Raum leuchteten sie wie lupenreiner Granat. Wie sie auf ihrer gekurvten Bahn in einzelne Tröpfchen zerfielen, bevor sie gegen die Kittelfronten der Ärzte und Schwestern prasselten. Wie sie alle Aufmerksamkeit auf sich zogen, wie von überallher Leute angestürzt kamen.
    Elina lässt die weite, grüne Schwangerschaftsbluse fallen und sinkt auf den Stuhl. Sie gibt Acht, dass sie das Kind auch ja sicher im Arm hält, ihren Sohn, und dass sie nur ihn ansieht, sonst nichts. Noch immer murmelt er ihr stumm seine Geheimnisse zu, als ob er die Antworten auf alles weiß, was sie wissen muss.

L exie steht mit einer Zigarette in der Hand am Fenster und blickt auf die Straße hinunter. Die alte Frau aus der Wohnung unter ihr macht sich zu ihrem täglichen Spaziergang auf. In der einen Hand die Hundeleine, in der anderen die Einkaufstasche, den Rücken zum Komma verkrümmt, schiebt sie sich, ohne nach links oder rechts zu schauen, im Schneckentempo über die Fahrbahn.
    »Eines schönen Tages kommt sie noch unters Auto«, murmelt Lexie.
    »Wer?« Innes hebt den Kopf von der Matratze.
    Lexie deutet mit der Zigarette nach draußen. »Deine Nachbarin. Die mit dem Buckel. Und wahrscheinlich unter dein Auto.«
    Sie sieht anders aus als das Mädchen, das lesend auf dem Baumstumpf saß. Zum einen ist sie - bis auf ein offenes, bunt gestreiftes Hemd von Innes - nackt. Zum anderen hat sie eine neue Frisur, einen angeschrägten Pagenkopf, der ihr Gesicht seidig umspielt.
    Innes gähnt, reckt sich und dreht sich auf den Bauch. »Wieso sollte ich meine Nachbarin überfahren wollen? Und wenn du den alten Drachen von unten meinst, die hat keinen Buckel, sondern eine in der Fachwelt als ›Kyphose‹ bekannte Veränderung der Brustwirbelsäule. Hervorgerufen durch …«

    »Ach, sei still«, sagt Lexie. »Woher weißt du denn das schon wieder?«
    Innes stützt sich auf den Ellenbogen. »Das kommt dabei heraus, wenn man seine Jugend vergeudet. Jahrelang habe ich meine Nase nur in Bücher gesteckt, statt nach Frauen wie dir Ausschau zu halten.«
    Während sie lächelnd den Rauch ausströmen lässt, erreichen die Frau und der Hund die andere Straßenseite. Es ist ein drückend schwüler Oktobertag. Schwere Wolken hängen am Himmel, und es sieht nach Wetterleuchten aus, aber die Frau trägt dasselbe wie immer: einen dicken Tweedmantel. »Na, das hast du ja inzwischen alles nachgeholt«, sagt Lexie.
    »Dabei fällt mir was ein.« Innes schlägt den Zipfel der Bettdecke zurück. »Komm her zu mir. Mich lüstet nach deiner Zigarette und deinem Körper.«
    Sie rührt sich nicht. »In dieser Reihenfolge?«
    »Egal in welcher Reihenfolge. Ab ins Bett!« Er klopft auf die Matratze.
    Lexie zieht noch einmal an der Zigarette. Sie schrammt mit dem einen nackten Fuß über den anderen, wirft noch einen letzten Blick auf die jetzt leere Straße und setzt zu einem Sprint ins Bett an. Nach drei, vier Schritten hebt sie mit einem graziösen Satz vom Boden ab. Innes sagt: »Mensch, Frau.« Das gestreifte Hemd flattert wie Flügel, und von der Zigarette rieselt weiß die Asche, aber sie bekommt davon nichts mit. Sie weiß nur, dass sie sich gleich zum zweiten Mal an diesem Tag lieben werden. Sie hat keine Ahnung, dass sie jung sterben wird, dass ihr nicht so viel Zeit bleibt, wie sie denkt. Sie hat eben erst die Liebe ihres Lebens gefunden, und nichts liegt ihr ferner als der Tod.
    Sie plumpst aufs Bett. Kopfkissen und Decke fliegen herunter,
Innes packt ihre Hand, ihren Arm, ihre Taille. »Das brauchen wir nicht«, sagt er, während er ihr das Hemd auszieht und auf den Boden wirft, während er sie aufs Bett legt und sich zwischen das V ihrer Beine schiebt. Er hält einen Augenblick inne, um ihr die Zigarette aus den Fingern zu pflücken, nimmt einen Zug und drückt sie im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus.
    »Also dann«, sagt er, bevor er sich wieder Lexie zuwendet.
    Doch wir wollen nicht vorgreifen. Der Film muss ein Stück

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