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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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fügt sich der Rest dann von selbst zusammen. Es gibt sie, es gibt das Baby, es gibt Ted. Zumindest wird er so genannt - er hat noch einen längeren Namen, aber den benutzt nie jemand. Mit Ted kennt Elina sich aus. Sie könnte jedem, der es wissen will, sein Leben erzählen. Sie könnte eine Prüfung über Ted ablegen und mit einer Eins bestehen. Er ist ihr Partner, ihr Freund, ihre andere Hälfte, ihre bessere Hälfte, ihr Geliebter, ihr Gefährte. Wenn er aus dem Haus geht, fährt er zur Arbeit. Nach Soho. Er fährt mit der U-Bahn und manchmal mit dem Fahrrad. Er ist fünfunddreißig, genau vier Jahre älter als sie. Er hat kastanienbraunes Haar und Schuhgröße 44, er isst gern Chicken Madras. Einer seiner Daumen ist flacher und länger als der andere, weil er, wie er sagt, als Kind daran gelutscht hat. Er hat drei Zahnfüllungen, eine weiße Blinddarmnarbe und einen lila Fleck am linken Fußknöchel, wo ihn vor Jahren im Indischen Ozean eine Qualle erwischt hat. Er hasst Jazz, Multiplexkinos, Schwimmen, Hunde und Autos - er weigert sich, eines anzuschaffen. Er ist allergisch gegen Pferdehaare und getrocknete Mango. Das sind die Fakten.
    Auf einmal findet sie sich auf der Treppe wieder, sie sitzt da, als ob sie auf jemanden oder etwas wartet. Es scheint viel später zu sein. Irgendwo im Haus klingelt das Telefon, der
Anrufbeantworter springt an, eine Freundin spricht ins Leere. Elina wird sie zurückrufen. Später. Morgen. Irgendwann. Jetzt lehnt sie mit dem Kopf an der Wand, das Kind auf dem Knie und neben sich auf der Treppe ein blaues Stück Stoff. Ein weiches Vliestuch. Es ist über und über mit silbernen Sternen bestickt.
    Beim Anblick der Sterne überkommt sie ein sonderbares Gefühl. Sie ist überzeugt, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, und doch hat sie gleichzeitig ein Bild vor Augen, wie sie sie stickt, wie sie die Nadel mit dem glitzernden Silbergarn ein ums andere Mal durch den Stoff sticht. Obwohl sie weiß, wie sich das Vlies anfühlt und dass ein Stern neben dem Saum ein wenig verunglückt ist, hat sie das Tuch noch nie zuvor gesehen. Oder doch? Plötzlich ist sie sich sicher, dass sie diese Stickerei im Krankenhaus angefertigt hat, zwischen den …
    Sie sieht durch die Diele zur Haustür. Die Sonne leuchtet durch die beiden Scheiben. Sie nimmt das Kind und das Tuch mit den Sternen - oder ist es eine Decke? Aber dafür ist es eigentlich zu klein -, steht auf und geht die Treppe hinunter. Das Licht, das durch das Glas hereinfällt, ist blendend hell, und ihr Herz macht einen Sprung, denn ihr wird klar, dass der Regen aufgehört haben muss.
    Sie könnte nach draußen gehen. Was für ein Gedanke. Raus auf die Straße, wo der Asphalt langsam abtrocknet, wo die Blätter auf dem Bürgersteig Abdrücke hinterlassen haben. Nach draußen, wo Motoren aufheulen und Autos wenden, wo Hunde sich kratzen und an Laternenmasten schnuppern, wo Leute gehen und reden und ihr Leben leben. Sie, Elina, könnte bis ans Ende der Straße gehen. Sie könnte eine Zeitung kaufen, eine Flasche Milch, eine Tafel Schokolade, eine Orange, ein paar Birnen.

    Sie kann es sich so deutlich vorstellen, als ob sie erst vor ein, zwei Wochen draußen gewesen ist, vor dem Haus. Wie lange ist es schon her? Wie lange, seit …
    Wenn sie vorher bloß nicht an so viel denken müsste. Sie braucht - ja, ihren Geldbeutel, ihre Schlüssel. Was noch? Elinas Blick fällt auf eine Baumwolltasche, die auf dem Boden steht. Sie stopft die blaue Sternendecke, ein paar Windeln und Feuchttücher hinein. Das müsste eigentlich reichen.
    Aber da ist noch etwas. Es nagt an ihr, und sie weiß, dass sie etwas vergessen hat. Elina bleibt stehen und denkt nach. Sie hat das Kind, den Wagen, die Tasche. Sie sieht die Treppe hinauf, sieht auf die sonnigen Rechtecke in der Haustür, sieht an sich hinunter. Sie hat das Kind auf dem einen Arm und die Tasche über der Schulter, quer über ihrem Körper, über ihrem Schlafanzug.
    Anziehen. Sie muss etwas anziehen.
    Auf ihrem Stuhl im Schlafzimmer liegt ein Kleiderhaufen. Sie hebt die Sachen mit der freien Hand hoch und lässt sie auf den Boden fallen. Eine Jeans mit riesigem Bund, eine Latzhose, eine graue Jogginghose, ein Sweatshirt mit rankendem Blumenmuster. Etwas Grünes, das sich in etwas Rotem verheddert hat. Weil sie die Teile nicht mit einer Hand voneinander lösen kann, schüttelt sie sie so lange, bis sich ein roter Schal losreißt und durch das Schlafzimmer segelt. Anmutig schwebt er im hohen Bogen von ihr

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