Die Hand die damals meine hielt - Roman
Besucher gleichzeitig, Ausgang bis
elf Uhr abends, danach wird die Tür verriegelt.« Sie beugte sich weit zu Lexie vor und musterte sie prüfend. »Sie mögen vielleicht wie eine nette, ordentliche junge Frau aussehen, aber Sie sind eine von der Sorte, die auf Abwege geraten kann. Das erkenne ich auf den ersten Blick.«
»Ach ja?« Lexie steckte die Schlüssel in ihre Handtasche, ließ sie zuschnappen und bückte sich nach ihrem Koffer. »Unterm Dach, sagten Sie?«
»Ganz oben.« Mrs. Collins nickte. »Auf der linken Seite.«
Lexie zog den Schlüssel aus dem Schloss und legte ihn auf den Kaminsims. Sie ließ sich vorsichtig auf dem Bett nieder und dachte aufatmend: Ich hab’s geschafft, ich bin hier. Sie strich sich die Haare glatt, ließ die Hand über die violetten Schnörkel gleiten. Dann kniete sie sich hin, lehnte sich aufs Fensterbrett und sah hinaus. Tief unter ihr lag ein struppiges Rasenviereck, das auf allen Seiten von efeuüberwucherten Mauern eingefasst wurde. Sie blickte die Reihe der Gärten entlang. In einigen wuchsen Bohnen und Salatköpfe, Rosen oder Jasmin, in anderen zeichneten sich unter dem Rasen, der Erde oder einem Steingarten noch die Höcker der Luftschutzkeller ab. Etwas weiter weg stand eine Kinderschaukel. Sie sah sogar eine riesige Rosskastanie mit flatternden, wehenden Blättern. Und gegenüber die Rückseite eines Reihenhauses, das so ähnlich aussah wie ihres - grau-braune Londoner Backsteine mit einem Zickzackmuster aus Rohren, die Fenster kreuz und quer darauf verteilt, eines mit Pappe zugeklebt. Sie entdeckte zwei Frauen, die wohl aus einem der Fenster geklettert waren und sich auf einem flachen Dachabschnitt sonnten, die Schuhe abgestreift, die hochgerafften Röcke von der Brise gebauscht. Unter ihnen - und von ihnen aus nicht zu sehen - lief ein Kind mit einem scharlachroten Flatterband in der Hand in
immer kleiner werdenden Kreisen durch den Garten. Ein paar Häuser weiter hängte eine Frau Wäsche auf die Leine, ihr Mann lehnte mit verschränkten Armen in der Tür.
Lexie schwindelte. Der Unterschied zwischen dem Blick nach hinten in ihre dunkle Kammer und dem Blick nach vorn auf die Welt vor dem Fenster war einfach zu merkwürdig. Einen berauschenden Augenblick lang kamen ihr das Zimmer und sie selbst nicht mehr real vor. Es war, als schwebte sie in einer Seifenblase und spähte auf das LEBEN hinaus, in dem Menschen lachten und redeten, lebten, starben und sich verliebten, arbeiteten und aßen, sich kennenlernten und wieder trennten, während sie nur eine stumme, reglose Beobachterin war.
Sie entriegelte das Fenster und schob die untere Hälfte nach oben. So. Schon viel besser. Der Schleier zwischen ihr und der Welt war gelüftet. Sie hielt den Kopf in den Wind, schüttelte ihn ein paarmal und löste ihr Haar, so dass es ihr frei ums Gesicht spielen konnte. Und es tat ihr gut, wie es sie kitzelte. Sie hörte, wie der kleine Junge, der im Kreis lief, vor sich hin brummte und die beiden Sonnenanbeterinnen leise plauderten. Sie spürte, wie das Fensterbrett unter ihren Ellenbogen scheuerte. Es war ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes.
Nach einer Weile nahm sie sich ihre Kammer vor. Sie rückte den Stuhl näher ans Fenster. Sie wuchtete das Bett an die Wand. Sie hängte den Spiegel gerade. Sie lief polternd die Treppe hinunter, um sich von einer verdutzten Mrs. Collins Eimer und Schrubber, Waschsoda und Essig, Besen und Kehrblech auszuborgen. Sie fegte, und sie staubte ab, sie wischte den Boden und die Wände, die Schrankfächer und die Gaskochplatte. Sie schüttelte das Oberbett aus dem Fenster aus, klopfte die Matratze, bis dicke Staubwolken im
Zimmer hingen, und bezog alles mit der frischen Bettwäsche, die sie zu Hause hatte mitgehen lassen.
Die Wäsche roch nach Lavendel, Waschpulver und Stärke - eine Mischung, bei der sie stets an ihre Mutter dachte - und auch in Zukunft immer denken würde. Lexie prügelte das Kopfkissen in den Bezug. Am vergangenen Abend hatte sie der Familie beim Essen verkündet, dass sie am nächsten Morgen nach London abreisen würde. Es sei alles arrangiert. Sie habe ein Quartier, sie habe am Montagmorgen einen Termin beim Arbeitsamt, sie habe ihre gesamten Ersparnisse abgehoben, um sich bis zu ihrem ersten eigenen Gehalt über Wasser zu halten. Und wenn sie sich auf den Kopf stellten, sie werde sich nicht aufhalten lassen.
Sofort brach der erwartete Tumult los. Ihr Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, ihre Mutter schimpfte und löste sich
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