Die Hand die damals meine hielt - Roman
in Tränen auf. Ihre ältere Schwester, mit dem Baby auf dem Arm, tröstete die Mutter und ließ Lexie mit spitz verkniffenem Mund wissen, das sei ja wieder einmal typisch für ihr »verantwortungsloses Benehmen«. Zwei ihrer Brüder rannten unter lautem Indianergeheul um den Tisch. Das zweitjüngste Kind, das die atmosphärische Störung spürte, plärrte in seinem Hochstuhl.
Sie warf das Kopfkissen aufs Bett und nahm das Oberbett aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel geworden; die Fenster des gegenüberliegenden Hauses leuchteten wie gelbe Kästen, die im tintenschwarzen Weltraum schwebten. Hinter einem bürstete sich eine Frau die Haare, hinter einem anderen las ein Mann mit der Brille auf der Nasenspitze Zeitung. Irgendwo ließ jemand eine Jalousie herunter; irgendwo beugte sich ein Mädchen in die Nacht hinaus und löste ihr Haar, genau wie Lexie es am Nachmittag gemacht hatte.
Lexie zog sich aus, legte sich ins Bett und versuchte, den Duft der Wäsche nicht zu riechen. Sie lauschte auf die Geräusche im Haus. Schritte auf der Treppe, zufallende Türen, ein Frauenlachen, ein leises Pst. Mrs. Collins Stimme, nörgelnd und vorwurfsvoll. Draußen im Garten eine Katze, die in einem fort jaulte. Ein Rohr in der Wand, das erst klopfte, dann zischte. Das Klappern und Scheppern von Töpfen. Jemand auf der Toilette eine Etage tiefer, das Rauschen und Tosen des Wassers, das langsame Tröpfeln, mit dem sich der Spülkasten wieder auffüllte. Lexie wälzte sich in der gestärkten Bettwäsche und sah lächelnd an die rissige Decke.
Am nächsten Tag lernte sie Hannah kennen, ein Mädchen, das im Erdgeschoss wohnte und ihr einen Trödelladen um die Ecke empfahl, wo Lexie Teller, Tassen und Töpfe kaufen konnte. »Akzeptier ja nicht den Preis, den man dir zuerst nennt«, warnte Hannah sie. »Du musst feilschen.« Als Lexie zurückkam, schleppte sie eine Spanplatte an, die Hannah mit ihr die Treppe hinauftrug. Im dritten Stock mussten sie eine Pause machen, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Strümpfe hochzuziehen. »Wozu brauchst du das Ding?«, f ragte Hannah keuchend.
Lexie legte die Platte mit der einen Seite aufs Bettgestell, mit der anderen auf den Rand des Waschbeckens. Darauf kamen ein paar Bücher, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, ihr Füller, ein Tintenfläschchen.
»Was hast du damit vor?«, fragte Hannah, die wie hingegossen auf dem Bett lag und Rauchringe blies.
»Ich weiß auch nicht.« Lexie starrte auf die seltsame Konstruktion. »Ich muss mir eine Schreibmaschine kaufen, tippen üben und … ach, ich weiß nicht.« Sie konnte nicht aussprechen, dass sie sich etwas aufbauen wollte, eine Karriere, eine Zukunft. Sie wusste zwar nicht, wie sie das anstellen
sollte, aber ein eigener Schreibtisch wäre vielleicht immerhin ein Anfang. Sie fuhr mit der Hand an der Kante entlang. »Ich musste es einfach haben.«
»Wenn du mich fragst«, sagte Hannah, während sie ihre Zigarette auf dem Fenstersims ausdrückte, »wären Töpfe und Pfannen wahrscheinlich nützlicher gewesen.«
Lexie, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um die Vorhänge abzunehmen, lächelte. »Vielleicht.«
N och so ein Aussetzer. Elina ist wieder unten in der Küche. Sie geht: auf und ab, hin und her, ihren Sohn an der Schulter. Sie trägt ihren Schlafanzug und darüber das schlabbrige, geblümte Sweatshirt. Der ganze Raum ist von Lärm erfüllt, einem penetranten, anhaltenden Schrillen, und es ist Elinas Aufgabe, es abzustellen. Sie kennt dieses Geräusch. Es kommt ihr fast so vor, als ob sie überhaupt nichts anderes mehr kennt: die Tonhöhe, die Variationen, den Verlauf. Es fängt als Häch-häch an. Davon kann es mehrere geben. Fünf, sechs, sieben - bis zu zehn. Dann kommen die Hä-ngggs: hä-nggg, hä-nggg, hä-nggg . Wenn Elina alles richtig macht, wenn sie in einem ganz bestimmten Moment etwas ganz Bestimmtes tut, hört es damit dann auch schon wieder auf, aber weil sie nicht genau weiß, was sie tun muss und wann, kann das Geräusch bis zum gefürchteten AhHgg anschwellen: ahHggg ahHggg ahHggg ahHggg . Nach dem vierten ein stummes Japsen, dann geht es mit den nächsten vieren los.
Wenn sie schlafen könnte, wäre alles in Ordnung. Nur einmal durchschlafen, drei Stunden, vielleicht vier. Sie ist so müde, dass sie, wenn sie den Kopf dreht, ein Knistern hört, als ob jemand ein Blatt Papier zusammenknüllt. Aber sie läuft und läuft. Sie wandert durch die Küche, vorbei am Herd, am Wasserkocher, am
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