Die Hand die damals meine hielt - Roman
Anrufbeantworter, der ihr verrät,
dass sie nicht weniger als dreizehn Nachrichten bekommen hat. Am Kühlschrank dreht sie sich um und geht wieder zurück, pochende Schmerzen in den Schläfen. Ein AhHggg dauert ungefähr zwei Sekunden, macht acht Sekunden für jeden Vierersatz, dazu vielleicht noch zwei Sekunden für die stumme Pause, ergibt insgesamt zehn Sekunden. Macht vierundzwanzig AhHgggs in der Minute. Und wie lange geht es diesmal schon so? Fünfunddreißig Minuten, das wären also - wie viele? Elina kann es nicht ausrechnen.
Später, als wieder Stille eingekehrt ist, eine angespannte, brüchige Stille, geht Elina allein die Treppe hinauf. Oben bleibt sie unschlüssig stehen. Sie hat drei Türen zur Auswahl: Eine führt ins Schlafzimmer, eine ins Bad, und die Dritte, die über ihr in die Decke eingelassen ist, auf den Dachboden.
Sie zieht die quietschende, silberfarbene Leiter herunter und klettert nach oben. Wie aus dem Meer gestiegen, taucht sie auf dem Speicher auf. Das Licht, das scharf durch die Schlitze der Jalousie sticht, fällt auf eine Reihe verstaubter Nagellackfläschchen auf dem Kaminsims, auf die Bücherrücken in den Regalen, auf eine Vase, die einen bunten Strauß aus Pinseln enthält, die Borsten steif, die Spitzen verhärtet. Ihre nackten Füße rascheln über den Teppichboden. Elina nimmt einen Kalender vom Schreibtisch unter dem Fenster und blättert darin. Restaurant, Kino, Besprechung, Vernissage, Friseur, Galerietermin. Sie legt das Büchlein wieder hin. Damals, als sie bei Ted noch zur Untermiete gewohnt hat, war der Dachboden ihr Zimmer, ihr Atelier. Vor langer Zeit. Vor dem Vorher. Vor dem, was jetzt ist. In einer Schublade findet sie eine Halskette, ein Wimperntuschebürstchen, einen roten Lippenstift, eine halbleere Tube Ocker, eine Ansichtskarte vom Helsinkier Hafen. Die Kleiderschranktür
klemmt, aber Elina braucht mit ihren staubigen Fingern nur einmal kräftig daran zu rütteln, und sie geht auf.
In dem Schrank ist der einzige Ganzkörperspiegel, den es im Haus gibt. Die Tür schwingt auf, und Elina steht einer Frau im fleckigen Sweatshirt gegenüber, mit nachgedunkeltem Haaransatz und wachsweißem Gesicht.
Sie meidet den Blick ihres Spiegelbilds, zieht das Sweatshirt hoch und hält es mit dem Kinn fest. Dann faltet sie den Gummibund der Schlafanzughose nach unten, nur ein Stückchen, nur eine Sekunde lang. Nur so lange, bis sie den Schnitt gesehen hat, der vom einen Hüftknochen bis zum anderen reicht, krumm und schartig mitten durch ihr Fleisch, das zarte Violett der Blutergüsse, die Metallklammern, die alles zusammenhalten.
Sie lässt den Saum des Sweatshirts fallen. Sie erinnert sich - woran?
Dass sie bis in die Achselhöhlen hinauf taub war und darüber Kopf und Schultern schwebten, dass sie sich wie eine Marmorbüste fühlte. Es war eine sonderbare Art von Taubheit, ganz ohne Schmerzen, aber nicht ohne Empfindungen.
Sie konnte spüren, wie die beiden Ärzte in ihr herumwühlten, als würden sie auf dem Grund eines Koffers etwas suchen. Sie wusste, dass es wehtun müsste, furchtbar weh, aber das tat es nicht. Kühl strömte das Betäubungsmittel ihr Rückgrat erst hinunter und dann wieder herauf, um sich zuletzt wie eine Welle an ihrem Hinterkopf zu brechen. Ein grüner Sichtschutz aus Leinen teilte ihren Körper in zwei Hälften. Sie konnte die Ärzte murmeln hören, ihre Köpfe sehen, ihre Hände in ihren Eingeweiden fühlen. Ted war da, links von ihr, auf einem Hocker. Und plötzlich ein großes Ziehen und Saugen, und beinahe hätte sie laut geschrien,
was macht ihr da , aber da wusste sie es auch schon, sie hörte den spitzen, zornigen Schrei, überraschend laut in dem stillen Raum, und hinter ihr sagte der Anästhesist, ein Junge . Leise wiederholte Elina das Wort bei sich, während sie an die gekachelte Decke starrte. Junge. Ein Junge. Dann sprach sie mit Ted. Geh mit , sagte sie. Geh mit dem Jungen. Weil ihre Mutter und ihre Tanten manchmal die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt hatten, dass ein Kind der falschen Mutter übergeben worden war, dass ein Kind im Labyrinth der Krankenhauskorridore verschwunden war, dass ein Kind kein Namensschildchen hatte. Ted stand auf und ging auf die andere Seite des Raums.
Dann war sie allein. Irgendwo hinter ihr der Anästhesist. Vor ihr die Ärzte. Der Sichtschutz, der sie in zwei Teile zerschnitt. Sie lag auf dem Tisch, die Hände, über die sie keine Kontrolle hatte, auf der Brust gefaltet. Sie konnte sie nicht
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