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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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und geht los; das Warenhaus mit dem Lift, seinen Knöpfen und der Glocke lässt sie bis morgen hinter sich. Sie muss sich beeilen, um noch knapp vor einer heranrumpelnden Straßenbahn auf die andere Fahrbahnseite zu gelangen. Ein Auto hupt, als sie den gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht, und während sie einem Mann ausweicht, der einen Blumenkarren schiebt, steigt so etwas wie ein Lachen in ihr auf. Aber vielleicht ist es auch gar kein Lachen. Nur, was ist es dann? Als sie um die Ecke biegt, wird sie plötzlich vom Schein der
tief stehenden Abendsonne übergossen; auf Pflaster und Asphalt liegen lange, spitze Schattenstreifen. Ein Zeitungsverkäufer kommt ihr entgegen und ruft immer wieder zwei langgezogene Silben: Aaaahm Blatt, Aaaahm Blatt . Und plötzlich weiß Lexie, was sie empfindet: Es ist Freude. Schiere, reinste Freude. Sie ist mit einer Studienkollegin verabredet, die seit einem Jahr in London lebt. Sie wollen zusammen ins Kino. Sie hat eine Arbeit, sie hat eine Unterkunft, sie hat es nach London geschafft. Das Gefühl ist Freude.
    Aaaahm Blatt ruft der Zeitungsverkäufer wieder, diesmal bereits hinter ihr. Mit einem Blick über die Schulter springt Lexie vom Bürgersteig und läuft über die Straße. Sie lässt ihre Tasche schwingen und knöpft ihren Mantel auf. Ah, was für ein Hochgefühl, wenn man zum ersten Mal begreift, dass man tun und lassen kann, was man will, ohne dass einem irgendjemand dreinredet. Die Leute drehen sich erstaunt nach ihr um, eine alte Frau schnalzt missbilligend mit der Zunge, als sie vorbeirennt, und die lang gezogenen Rufe des Zeitungsverkäufers hallen wehmütig hinter ihr her.
    Sie kommt erst spät wieder zurück nach Kentish Town, doch zum Glück nicht zu spät, denn Mrs. Collins hat die Tür noch nicht verriegelt. Nachdem sie eine Minute mit dem Schloss gekämpft hat, schlüpft sie hinein und zieht die Tür leise hinter sich zu. Statt in der Diele von Grabesstille und Dunkelheit empfangen zu werden, wie sie es erwartet hat, brennen alle Lampen, und von irgendwoher dringen lautes Stimmengewirr und Gelächter an ihr Ohr. Auf der Treppe hocken mehrere Frauen, Mieterinnen wie Lexie.
    Verwundert geht sie auf sie zu. Gibt jemand eine Party? Weiß Mrs. Collins davon? Vielleicht ist sie heute Abend ausgegangen.

    »Ah, da kommt sie ja!«, ruft jemand.
    »Wir haben uns schon langsam Sorgen gemacht«, sagt Hannah, hinter einem Frauenrücken hervorlugend. Sie hält ein Glas in der Hand und hat leicht gerötete Wangen.
    Da an ein Durchkommen ohnehin nicht zu denken ist, knöpft Lexie erst einmal ihre Jacke auf. »Mir geht’s gut.« Sie lässt den Blick über die fidele Runde schweifen. »Ich war im Kino, mit einer Fr…«
    »Sie war im Kino!«, ruft Mrs. Collins, die, wie Lexie jetzt erst sieht, auf dem ersten Treppenabsatz auf einem Stuhl sitzt.
    »Was ist los?«, fragt Lexie lächelnd. »Feiern wir ein Hausfest?«
    »Nun ja«, sagt Mrs. Collins mit einem Anflug ihrer üblichen Strenge. »Irgendjemand musste ja schließlich Ihren Besuch unterhalten.«
    Lexie sieht sie an. »Meinen Besuch?«
    Mrs. Collins packt sie am Arm und schiebt sie durch das Dickicht aus Beinen und Menschen. »So ein amüsanter junger Mann«, sagt sie. »Wie Sie wissen, dulde ich ja normalerweise keine Herrenbesuche, aber nachdem er mit Ihnen verabredet war und Sie ihn so schnöde versetzt haben, wollte ich Sie nicht blamieren und …«
    Lexie, Mrs. Collins und Hannah biegen um die Ecke zur nächsten Treppe. Auf der vierten Stufe sitzt Innes.
    »Und wie hat er darauf reagiert?«, fragt er gerade eine graue Maus mit Überbiss. »Maßlos zerknirscht, möchte ich hoffen.«
    »Mr. Kent hat sich ein Spiel für uns ausgedacht.« Mrs. Collins drückt Lexies Arm. »Wir erzählen ihm die peinlichsten Augenblicke unseres Lebens, und er darf entscheiden, welche von uns am meisten gelitten hat. Diejenige ist
dann die Gewinnerin.« Ihr entfährt ein keuchendes Lachen, und sie schlägt sich die Hand vor den Mund.
    »Tatsächlich?«, sagt Lexie.
    Innes wendet sich ihr zu, mustert sie von oben bis unten. Er lächelt. Er bewegt leicht die Hand, in der er seine Zigarette hält. Es könnte ein Winken sein oder ein Achselzucken.
    »Da sind Sie ja«, sagt er. »Wir haben uns schon gefragt, wo Sie wohl abgeblieben sind. Sind Sie wieder durch die falsche Tür gegangen? Ein Tor in eine andere Welt?«
    Lexie legt den Kopf auf die Seite. »Heute nicht, nein. Nur die Tür zum Kino.«
    »Ah. Der Lockruf des Zelluloids. Es wurde

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