Die Hand die damals meine hielt - Roman
seiner Sternendecke, und sich selbst mit Sonnenbrille und einem weißen Hemd von Ted, wie sie zügig und kompetent den Wagen schiebt. Sie hat an alles gedacht - Spucktücher, Windeln, Feuchttücher, Sonnenschirm. Sie wird ein gleichmäßiges, stetiges Tempo anschlagen. Wird sich im Sonnenschein über ihren Sohn beugen,
wird mit ihm reden. Die anderen Spaziergänger werden lächeln, wenn sie sie sehen. Dieses Bild hat sie seit dem frühen Morgen im Kopf, seit sie wach ist, seit sie gesehen hat, dass die Ränder des Rollos in der Sonne orange leuchteten. Sie und er unter den Bäumen, durch deren Blätter das Licht fällt und huschende helle Sprenkel auf die Wege zaubert.
Nur kann sie leider ihren Schuh nicht finden. Ein Sneaker steht in dem Regal neben der Haustür, aber der andere ist - Gott weiß wo. Während Elina sich den einen Sneaker bindet, blickt sie sich in der Diele gehetzt nach dem anderen um, denn sie weiß, es ist ein Rennen gegen die Zeit. Der Abstand zwischen dem letzten Stillen und dem nächsten wird immer kleiner. Sie schaut in der Küche nach und unter dem Sofa, geht nach oben, sucht im Bad und im Schlafzimmer. Doch der zweite Schuh ist nirgends zu finden. Sie verwirft den aberwitzigen Gedanken, dann eben nur mit einem loszugehen, reißt sich den partnerlosen Turnschuh vom Fuß und schlüpft in zwei Flipflops, die sie unter dem Bett gefunden hat. Die müssen reichen.
Sie läuft wieder nach unten, Jonah über der Schulter. Anscheinend hat sie ihn zu stark geruckelt, denn er fängt leise an zu krähen.
»Pst«, summt sie leise, »pst«, während sie ihn vorsichtig in den Wagen legt und zudeckt. Aber kleine Kinder haben kein Verständnis für Eile. Jonah sieht mit ängstlich kraus gezogener Stirn zu ihr auf. »Nicht weinen«, sagt sie zu ihm, »nicht weinen.« Dass sie die Tasche über den Griff hängt, scheint Jonah noch mehr aufzuregen. Er verzieht das Gesicht, er schreit. Elina schaukelt den Kinderwagen, während sie ihren Schlüsselbund vom Haken nimmt, während sie den Wagen über die Schwelle wuchtet, während sie ihn den Gartenweg hinunterschiebt.
Am Tor schreit Jonah immer noch. Als sie um die erste Ecke biegt, schreit er noch lauter, strampelt seine Decke weg, dreht den Kopf hin und her. Elina wird das Herz schwer. Sie kennt dieses Weinen. So viel, immerhin, hat sie inzwischen gelernt. Er hat Hunger. Er will trinken.
Am Eingang zum Park bleibt Elina stehen. Sie blickt sich um. Sie sieht ihren Sohn an, der inzwischen richtige Tränen weint und die Händchen verzweifelt zu kleinen Fäusten geballt hat. Wie kann das sein, dass er schon wieder Hunger hat? Sie hat ihn doch erst - wann? - vor einer Stunde gestillt. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Die Bäume im Park sind so nah. Ihre tief nach unten reichenden Äste verlockend grün. Sie könnte ihn einfach irgendwo auf einer Bank stillen, aber was, wenn es nicht klappt, wenn er schreit und zappelt?
Sie beißt die Zähne zusammen, sie kippt den Wagen auf die Hinterräder, dreht ihn um und schiebt ihn nach Hause.
Sie setzen sich ans Fenster, und er trinkt, zehn Minuten lang, voll konzentriert. Sie legt ihn bäuchlings über ihre Knie, weil er das nach dem Stillen gern hat, aber statt ein Bäuerchen zu machen, schläft er sofort ein. Sie traut ihren Augen nicht. Kann er wirklich eingeschlafen sein? Ist das möglich? Die leicht geschlossenen Lider, das gespitzte Mündchen mit dem Daumen daneben. Sie fasst es nicht: Er schläft. Keine Frage.
Wie eine Reisende, die ihre Heimat lange nicht mehr gesehen hat, lässt sie den Blick umherschweifen. Ihr stehen so viele Möglichkeiten offen, dass sie ganz übermütig wird. Sie könnte ein Buch lesen, eine Freundin anrufen, eine E-Mail verschicken, einen Brief schreiben, etwas zeichnen, Suppe kochen, Kleider aussortieren, doch noch den Spaziergang
machen, fernsehen, in ihrem Kalender blättern, den Fußboden wischen, die Fenster putzen, im Internet surfen. Sie kann machen, was sie will.
Vorsichtig, ganz vorsichtig schiebt sie die Hände unter ihn, die Finger unter seine Rippen, die Daumen unter seinen Kopf. Er seufzt und schmatzt, aber er wacht nicht auf. Unendlich behutsam beginnt sie ihn hochzuheben. Sofort heben sich flatternd seine Lider, und ihm entfährt ein heiserer, leiser Schluchzer. Elina legt ihn wieder hin. Jonah steckt den Daumen in den Mund und fängt verzweifelt an zu nuckeln, als hätte sie ihn verraten und verkauft. Sie rührt sich nicht, traut sich kaum zu atmen. Und
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