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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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allmählich dämmert er wieder ein.
    Tja, denkt sie, dann fällt der Spaziergang heute also aus. Und du musst so lange hier sitzen bleiben, wie er schläft. Aber es gibt Schlimmeres auf der Welt. Oder nicht?
    Und während sie das denkt, kommt es Elina so vor, als ob es nichts Schlimmeres gibt auf der Welt. Sie hat einen solchen Drang, nach draußen zu gehen und etwas anderes zu sehen als immer nur dieses Haus von innen, eine solche Sehnsucht, am Geschehen teilzuhaben. Sie hat sich schon dabei ertappt, dass sie Ted neidisch ansieht, wenn er von der Arbeit kommt, mitten aus dem Leben der Stadt. Manchmal möchte sie sich neben ihn stellen und an ihm schnuppern, um den Duft in sich einzusaugen, es spüren. Sie hat den verzweifelten Wunsch, woanders zu sein - egal wo.
    Ihr rastlos wandernder Blick fällt auf einen gefalteten Zettel, der auf dem Sofa liegt. Sie greift vorsichtig danach und streicht ihn glatt. Im ersten Moment glaubt sie, es sei eine Einkaufsliste, in Teds Handschrift. Aber es ist keine Einkaufsliste.

    unzuverlässig,
Steine
derselbe Mann?
Name beginnt evtl. mit R
Drachen
    Am Ende sind noch zwei Wörter, die Elina nicht entziffern kann. Das eine fängt mit K an - »Katze« vielleicht? -, und das andere könnte »glomm« oder »klamm« heißen. Auf der Rückseite steht - durchgestrichen - E. fragen .
    Elina dreht den Zettel wieder um. Sie liest ihn immer wieder, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, um aus den Wörtern einen Satz zu basteln oder eine Gedichtstrophe. Was ist das für eine Liste? Warum hat Ted sie geschrieben? Meint er unzuverlässig Steine oder unzuverlässig Lücke Steine . Und was ist der Unterschied? Derselbe Mann , aber welcher? Warum wollte er sie etwas fragen, und warum hat er es sich anders überlegt? Kennen sie jemanden, dessen Name mit R beginnt? Als sie sich noch einmal die Rückseite ansieht, fällt ihr auf, dass der Zettel am Falz blau verfärbt ist: Ted muss ihn in der Hosentasche seiner Jeans mit sich herumgetragen haben. Wahrscheinlich ist er ihm gestern Abend herausgefallen, als er auf dem Sofa saß. Sie liest ihn so lange immer wieder, bis die Schleifen und Striche vor ihrem Augen flimmern, bis sie den ganzen Kopf voll hat von unzuverlässigen Männern mit Steinen und Drachen.
    Während sie den Zettel ein paarmal auf- und wieder zufaltet, steigt ein Gedanke in ihr auf. Beziehungsweise ein Gefühl: Sehnsucht nach ihrer Mutter. Es überkommt sie so unerwartet und ungebeten, dass sie fast laut lachen muss. Sie will ihre Mutter sehen. Wann hat sie dieses Gefühl zum
letzten Mal gehabt? Vor zwanzig Jahren? Vor fünfundzwanzig? Im Kindergarten? Als sie auf dem Schulweg von dem großen Mädchen in die Brennnesseln geschubst wurde? Als sie mit ungefähr neun Jahren zelten war und ihren Schlafsack vergessen hatte?
    In den Schären ist es jetzt Mittsommer, Hochsaison für die Pension ihrer Mutter. Die Zeit, in der die Kinder von Nauvo im sandigen Wasser der Bucht schwimmen lernen, in der die Eisenwarenhandlung an der Hauptstraße Spaten, Eimer und Angelruten an die Urlauber aus Deutschland verkauft und an die Familien, die für das Wochenende aus Helsinki heraufgekommen sind, in der der Hafen mit Ständen gesäumt ist, an denen Strickmützen, Leinenschuhe und T-Shirts mit der Aufschrift »Suomi« ausliegen.
    Und ihre Mutter? Elina wirft einen Blick auf die Wanduhr. Elf Uhr dreißig, das heißt, in Finnland ist es halb zwei. Obwohl sie schon so lange fort ist und behauptet, die Pension und ihre Bewohner, die Schären, die Kleinstadt, das ganze Land zu hassen, obwohl sie so früh wie möglich davor geflohen ist, so weit weg wie möglich, so oft wie möglich, trägt sie die heimatlichen Rhythmen noch immer in sich. Jetzt serviert ihre Mutter gerade im Garten das Mittagessen, auf nicht zueinander passenden Tellern mit geriffelten Rändern. Für die Getränke gibt es verschiedenfarbige Gläser in verschiedenen Größen. Wenn es ein Regentag ist, sitzen die Gäste auf der Veranda. Sie sieht ihre Mutter vor sich, wie sie mit wiegendem Gang gemächlich vier Teller aus der Küchen nach draußen bringt, eine Schürze über dem unvermeidlichen Batistkleid, die Augen hinter der Sonnenbrille mit den rosa Gläsern verborgen. Wenn die Touristen bestellen wollen, fischt sie mit meditativer Ruhe einen Stift, einen Block und ihre Lesebrille aus der Schürzentasche und
geht anschließend mit ihrem wiegenden Gang wieder zurück in die Küche, vorbei an der riesigen Buche und an der Skulptur

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