Die Hand von drüben
rechtzeitig wurde ihm klar, daß er völlig verstört war.
«Musik, Pratt!» brüllte Bessmer. «Alle singen mit und helfen, daß die Kraft über Mutter kommt.»
Das Schweigen wurde durch das Dröhnen von Kirchenglocken und den Choral «Vorwärts, Soldaten Christi», in den die Teilnehmer, von denen jetzt die Spannung gewichen war, freudig wie Kinder einfielen, gebrochen. Und auch Wiener wurde von dem Rhythmus mitgerissen. Seine Füße schlugen den Takt zu der Musik, und das Verlangen, aus voller Kehle mitzusingen, wurde übermächtig, bis die Wut über sich selbst ihn wieder zur Vernunft brachte, während er dachte: Höllenglocken! Was ist das? Was glauben sie zu tun? Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Aber er wußte, er war nicht mehr ein ruhiger, objektiver Beobachter.
Seine Verwirrung wurde noch gesteigert, als ein äußerst unheiliger Krach aus dem Kabinett kam, der das Singen und die Schallplattenmusik übertönte, ein Gemisch von Trommel-, Harmonika-, Trompetenklängen, Klopfen und Schlagen, Stöhnen und erstickten Schreien, das dann verstummte. Ein schwacher rötlicher Lichtschein verbreitete sich und verscheuchte etwas von der Dunkelheit, und Wiener sah, wie die Vorhänge heftig bewegt wurden, schwollen, schwangen und sich nach außen bauschten, als ob ein gigantischer Kampf hinter ihnen vorginge.
Er dachte sofort an das zitternde Zelt der Ojibwac-Indianer und den Medizinmann, der gefesselt darin lag, und an das, was Alexander Hero von den seltsamen und genauen Prophezeiungen berichtet hatte, die aus dem Zelt gekommen waren, Dinge, die der Mann darin unmöglich hatte wissen können.
«Hei», schrie Bessmer zu seiner Linken plötzlich. «Mutters Kraft ist heute abend stark. Daß sich niemand bewegt!» Der rote Lichtschein erlosch von neuem und ließ grüne Bilder auf der Netzhaut zurück. Aus dem Kabinett kam eine Stimme: «Guten Tag. Da bin ich wieder, der Große Häuptling Gewitterwolke». Rührend lächerlich riefen die Teilnehmer: «Guten Abend, Großer Häuptling», und Wiener hatte das Gefühl, er müsse in schallendes Gelächter ausbrechen, aber ihm war trotzdem nicht nach Lachen zumute.
«Willkommen, Großer Häuptling», dröhnte Bessmer. «Welche Geister kommen heute abend? Wen möchten sie sprechen?»
«Ein Geist meines eigenen Volkes. Sie ist sehr stark, sie spricht.»
Dann Schweigen und eine sanfte, junge, halb flüsternde Stimme: «Na-no-gon-ta-wah», und das dann noch zweimal wiederholt.
«Was ist das?» sagte Bessmer heftig. «Was haben Sie gesagt? Wer sind Sie?»
«Mein Gott», sagte Saul Wiener, «das ist mein Indianername», ohne zu merken, daß er laut gesprochen hatte.
«Ist das für Sie, Freund Roth?» fragte Bessmer. «Lassen Sie die Hände nicht los! Brechen Sie die Kette nicht! Sagen Sie, wer Sie sind, Geist.»
«Wa-na-ton-ne-dah!» Unverständliche Worte und Silben kamen aus dem Dunkel, die Stimme sanft und zärtlich wie das Auge eines Rehs. Keiner wurde aus ihnen klug, außer Wiener, der sie in der Seneca-Sprache sagen hörte, sie sei die erste Blume, die nach dem Schnee komme, und sie alle und jene, die vor ihm dahingegangen seien, seien glücklich und wachten über ihn.
Wiener wurde immer verwirrter. Die Bessmers hatten ihn noch nie gesehen. Die Chance betrug eins zu einer Million, daß sie zufällig auf seine Seneca-Urururgroßmutter gestoßen waren.
Die Kehle war ihm trocken, und es war ihm, als hätte er einen Kloß darin, und Schweiß floß aus seinen Achselhöhlen. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. Er sprach ein paar Seneca-Worte zu dem dunklen Fleck, von dem die Botschaft kam.
Die Antwort in der gleichen Sprache war noch leiser: «Leb wohl, Na-no-gon-ta-wah, Sohn meines Stammes. Wir wachen. Glaube an uns.» Und dann verstummte sie. Und die Stimme des Häuptlings f Gewitterwolke sagte zum Abschied: «Die erste Blume, die nach dem Schnee kommt, ist in den Jagdgrund der Seligen zurückgekehrt.» Saul Wiener lief es kalt den Rücken hinunter, und ihm war ein wenig übel.
Er war aber auch wütend, weil er spürte, daß man ihn umgarnt hatte und daß jemand im Dunkel, die widerliche Frau in dem Kabinett oder die anmutige junge Stimme oder der Mann, der neben ihm saß, oder alle drei ihn auslachten, daß er so idiotisch gewesen war, vor all diesen Versammelten Seneca zu sprechen. Sein scharfer Intellekt war sogar fähig, sich neben ihn zu stellen und seine verwirrte Seelenverfassung zu beobachten, und zum erstenmal ver- ; mochte er zu verstehen,
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