Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hand

Die Hand

Titel: Die Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ecke
Vom Netzwerk:
das angespannte, weil höchst konzentrierte Gesicht von Colin sah, der gerade seinem Beruf nachging. Der wiederum hatte seine linke Hand voll in der Handtasche, was er jetzt mit einer erschrockenen, ruckartigen Bewegung rückgängig machte.
    Eine Sekunde später wurden dadurch zwei Geschehnisse gleichzeitig ausgelöst. Die Frau begann zu kreischen, und Colin Shapton ließ Handtasche und alle Hoffnung auf einen Fischzug fahren und nahm die Beine in die Hand. Er hatte schon acht Meter an Boden gewonnen, als alle drei Frauen losschrien: „Haltet ihn. Haltet den Dieb fest.“ Colin Shapton brauchte keine Augen im Rücken, um zu wissen, daß in diesem Moment die Finger der Damen wie Wegweiser auf ihn zeigten.
    Im Nu hatten viele, bisher unbeteiligte Menschen, die sich zu der Zeit im näheren Umkreis aufhielten, nur noch Augen für Colin Shapton.

    Dem Taschendieb war seine plötzliche Prominenz äußerst unangenehm, weshalb er ein beachtliches Tempo vorlegte. Er wetzte durch Menschenreihen, die wie auf Kommando ein Spalier bildeten. Aus den Augenwinkeln sah Colin Shapton eine ihm wohlbekannte Uniform von der gegenüberliegenden Straßenseite auf sich zuschießen, was seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick so in Anspruch nahm, daß er erst im allerletzten Moment einem Kinderwagen ausweichen konnte, den eine junge Mutter versuchte, vor ihm in Sicherheit zu bringen.
    Nicht mehr ausweichen allerdings konnte Colin Shapton einem Bein, das ein etwa dreizehnjähriger Junge blitzschnell vorstreckte, gerade als er seine Richtung scharf nach links in eine Seitenstraße ändern wollte. Wer schon einmal einen Hund gesehen hat, der in vollem Lauf plötzlich auf einem glatten Parkettboden den Halt unter den Pfoten verliert, kann sich nun vorstellen, wie Colin Shapton aussah, als er verzweifelt versuchte, auf den Beinen zu bleiben, die ihm nicht mehr gehorchten.
    Der Versuch endete kläglich nach weiteren fünfzehn Metern, wo der Taschendieb, wie ein Torpedo, kopfüber in den Gemüsestand von Sean O’Mally rauschte, was vor allem die prallen Tomaten übelnahmen. Sie zerbarsten, und ihr Saft ergoß sich über das restliche Gemüse.
    Das erste, was Colin Shapton, der im Moment nur noch rot sah, weil ihm die Tomaten in nunmehr breiigem Zustand das Gesicht verklebten, anschließend dumpf wahrnahm, waren Flüche von solch lästerlicher Art, wie sie nur ein Ire zustande bringt. Ein sehr zorniger Ire.
    Als zweites merkte Colin Shapton, wie er schon wieder den Boden unter den Füßen verlor. Diesmal lag es daran, daß ihn Sean O’Mally am Kragen seiner jetzt weiß-roten Anzugjacke hochgehoben hatte und den Taschendieb wild hin und her beutelte.
    Zum dritten mußte Colin Shapton schmerzlich erfahren, daß dieser schreckliche Ire trotzdem noch eine Hand freihatte. Diese versetzte ihm zwei schallende Ohrfeigen, was in Colins Kopf etliche Glocken zum Bimmeln brachte. Der inzwischen am Tatort eingetroffene Wachtmeister Peter Shelton sah sich schließlich einem zitternden Bündel Mensch gegenüber, das nur noch wimmerte: „Bitte, bringen Sie mich von hier weg.“
    „Das kannst du haben, mein Junge“, sagte Peter Shelton grimmig.
    Eine Viertelstunde später befand sich Colin Shapton im nächsten Polizeirevier. Inspektor John Eaton schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel, als ihm das rotgesprenkelte Häuflein Elend vorgeführt wurde.
    „Ja, ha. Haha. Hahaha... Wer kommt denn da? Der König der Londoner Taschendiebe. Sie sehen etwas mitgenommen aus, Shapton. Oder haben Sie nur beim Frühstück gekleckert? Ich wußte gar nicht, daß Purpur aus solchen Früchten entsteht.“
    John Eaton wußte natürlich längst über die spektakulären Umstände bei Shaptons Festnahme Bescheid. Aber der Inspektor war bekannt dafür, daß er immer für einen Spaß zu haben war, wenn sich eine Gelegenheit bot. Bei seinen Beamten im Revier war er deshalb recht beliebt, bei dem Taschendieb im Moment allerdings weniger. Dem dröhnte immer noch der Schädel von O’Mallys übler Behandlung. Wenigstens hatte er sich im Revier das Gesicht waschen dürfen. Aber dieses schadenfrohe Feixen des Inspektors war fast mehr, als er noch ertragen konnte. Colin Shapton hatte eine Mordswut im Bauch.
    Der Inspektor sah ihm das an. „Kommen Sie, Shapton, machen Sie nicht so ein aggressives Gesicht einem alten Bekannten gegenüber. Wie oft haben wir uns jetzt hier schon gesehen. Zwölfmal?“
    Der Taschendieb ließ seinen gemarterten Körper auf einen Stuhl sinken.

Weitere Kostenlose Bücher