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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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den Sehnerven und zum Teil aus dem Gedächtnis speisten - wenn sich das, was man in einem bestimmten Moment »wahrnahm«, in Wirklichkeit aus aktuellen und gespeicherten Eindrücken zusammensetzte -, erhielt der Ausdruck »Leben in der Vergangenheit« eine völlig neue Bedeutung. Wenn die Vergangenheit uns mit veralteten Daten versorgt, die als Sinneserfahrungen getarnt sind, würde sie damit eine eigenartige Tyrannei über die Gegenwart ausüben. War das nicht ganz ähnlich wie die Situation eines Serienmörders, der von einem weit zurückliegenden Trauma getrieben wurde? Wie verzerrt musste seine Wahrnehmung sein?
    Diese Theorie munterte ihn kurz auf. Wenn er eine neue Idee hin und her wenden und sie auf ihre Stichhaltigkeit prüfen konnte, hatte er immer das Gefühl, das Heft in der Hand zu haben, lebendig zu sein. Doch heute ließ sich dieses Gefühl nicht festhalten. Sein GPS meldete, dass es nur noch dreihundert Meter bis zur Ausfahrt nach Wycherly waren.
    Am Ende der Schleife bog er rechts ab. Die Gegend war ein Mischmasch aus Farmfeldern, gleichförmigen Häusern, Einkaufszentren und Überbleibseln einer anderen
Ära von Sommervergnügungen: ein verfallenes Autokino, das Schild eines Sees mit irokesischem Namen.
    Er musste an einen anderen See mit indianisch klingendem Namen denken. An einen See mit einem Rundweg, auf dem er und Madeleine an einem Wochenende gewandert waren, als sie nach dem idealen Haus in den Catskills gesucht hatten. Er erinnerte sich noch gut an ihr belebtes Gesicht, als sie Hand in Hand auf einem niedrigen Hang standen und lächelnd hinabblickten auf das windgekräuselte Wasser. Die Reminiszenz ging mit Schuldgefühlen einher.
    Er hatte noch nicht einmal mit ihr telefoniert, um ihr mitzuteilen, wo er hingefahren war. Er war sich nicht sicher, wie viel er ihr verraten sollte. Sollte er den Poststempel überhaupt erwähnen? Er beschloss, sie sofort anzurufen und dann spontan zu entscheiden. Hoffentlich fällt mir das Richtige ein.
    Angesichts seiner psychischen Belastung war es wohl das Klügste, kurz anzuhalten, um das Gespräch zu führen. Der erste passende Ort war ein ungepflegter Kiesparkplatz vor einem winddicht verriegelten Verkaufsstand. Der Begriff für seine Privatnummer im sprachaktivierten Wählsystem lautete schlicht und ergreifend: zu Hause.
    Nach dem zweiten Klingeln meldete sich Madeleine mit dem optimistischen, einladenden Ton, den Anrufe immer bei ihr auslösten.
    »Ich bin’s.« Seine Stimme spiegelte nur einen Bruchteil ihrer Leichtigkeit wider.
    Kurzes Zögern. »Wo bist du?«
    »Deswegen rufe ich an. Ich bin in Connecticut, in der Nähe eines Orts namens Wycherly.«
    Die naheliegende Frage wäre »Warum?« gewesen. Aber
Madeleine stellte keine naheliegenden Fragen. Sie wartete einfach.
    »In unserem Fall hat sich was getan«, fügte er hinzu. »Kann sein, dass sich die Lage zuspitzt.«
    »Verstehe.« Sie atmete langsam und kontrolliert ein. »Willst du mir noch mehr darüber erzählen?«
    Er blickte durch das Autofenster auf den leblosen Gemüsestand. Er schien nicht nur verriegelt, sondern völlig verlassen. »Der Mann, den wir suchen, wird allmählich leichtsinnig. Möglicherweise ergibt sich die Gelegenheit, ihn zu fassen.«
    » Der Mann, den wir suchen? « Ihre Stimme war wie splitterndes Eis.
    Er blieb stumm, erschrocken über ihre Reaktion.
    In offenem Zorn fuhr sie fort. »Meinst du zufällig den blutrünstigen Killer, den Serienmörder, der keine Fehler macht - der den Leuten in den Hals schießt und ihnen dann die Kehle zerfetzt? Ist es der, von dem du redest?«
    »Ja … das ist der Mann, den wir suchen.«
    »Gibt es in Connecticut nicht genügend Polizisten für so was?«
    »Anscheinend ist er auf mich fixiert.«
    » Wie bitte? «
    »Offenbar hat er mich als jemanden identifiziert, der an dem Fall arbeitet, und vielleicht lässt er sich zu einer Dummheit hinreißen - dadurch hätten wir die Gelegenheit, die wir brauchen. Eine Chance, ihn zu stellen, statt immer nur nach seinen Morden aufzuräumen.«
    »Was?« Diesmal war das Wort keine Frage, sondern ein gequälter Aufschrei.
    »Mach dir keine Sorgen.« Sein Ton war wenig überzeugend. »Er hat angefangen auseinanderzufallen. Er wird
sich selbst zerstören. Wir müssen nur zur Stelle sein, wenn es passiert.«
    »Du hast zur Stelle sein müssen, als es noch deine Arbeit war. Aber jetzt musst du nicht dabei sein.«
    »Madeleine, verdammt noch mal, ich bin Polizist!« Die Worte brachen aus ihm heraus wie ein

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