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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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formen.
    Lange saß er da, flach und schnell durch den leicht geöffneten Mund atmend. Irgendwann - er bekam es nicht richtig mit - wurde die Verbindung unterbrochen. In einer
Art gestaltlosem Chaos wartete er auf einen beruhigenden, rettenden Einfall.
    Stattdessen stellte sich eine Empfindung von Absurdität und Elend ein: die Erkenntnis, dass er und Madeleine selbst in einem Moment, da sie einander emotional nackt und verängstigt begegneten, buchstäblich über hundertfünfzig Kilometer voneinander entfernt waren und ihre Gefühle per Handy in den Äther bliesen.
    Außerdem schoss ihm durch den Kopf, was er nicht erwähnt, was er ihr nicht verraten hatte. Er war mit keinem Wort darauf eingegangen, dass ihm mit dem Poststempel eine Riesendummheit unterlaufen war, die den Mörder vielleicht auf ihre Adresse aufmerksam machte, und dass dieses Versehen aus seiner verbissenen Konzentration auf die Ermittlung entstanden war. Dieser Gedanke brachte einen übelkeiterregenden Nachhall mit sich: die Erinnerung daran, dass eine ganz ähnliche Versunkenheit in eine Ermittlung vor fünfzehn Jahren zu Dannys Tod beigetragen und ihn letztlich vielleicht sogar verschuldet hatte. Es war erstaunlich, dass Madeleine die Verbindung zwischen dem Tod des Kleinen und seiner aktuellen Obsession hergestellt hatte. Erstaunlich und auf schmerzhafte Weise hellsichtig.
    Er hatte das dringende Bedürfnis, sie noch einmal anzurufen, ihr seinen Fehler zu gestehen und sie vor der Gefahr zu warnen. Er gab ihre Nummer ein und wartete auf ihre einladende Stimme. Das Telefon klingelte, klingelte, klingelte. Dann hörte er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter - ein wenig steif, fast streng und alles andere als einladend - und schließlich den Piepton.
    »Madeleine? Madeleine, bist du da? Bitte geh ran, wenn du da bist.« Er versank in einem Strudel von Ratlosigkeit. Ihm fiel nichts ein, um sein Anliegen knapp und
vernünftig zu formulieren, nichts, was nicht mehr geschadet als geholfen hätte, nichts, was nicht Panik und Verwirrung gestiftet hätte. Am Ende sagte er nur: »Ich liebe dich. Pass gut auf dich auf. Ich liebe dich.« Dann kam wieder ein Piepton, und die Verbindung wurde unterbrochen.
    Aufgewühlt und erschüttert starrte er auf den verfallenen Gemüsestand. Er hatte das Gefühl, einen Monat oder noch länger schlafen zu müssen. Am besten gleich für immer. Aber das war sinnlos. Das war die Art von verhängnisvoller Verzweiflung, die müde Männer in der Arktis dazu bewegte, sich in den Schnee zu legen und zu erfrieren. Er musste sich zusammenreißen. In Bewegung bleiben. Sich anstrengen. Stück für Stück flossen seine Gedanken wieder zusammen, um sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu richten. In Wycherly wartete Arbeit auf ihn. Ein Wahnsinniger musste gefasst, Leben mussten gerettet werden. Das von Gregory Dermott, sein eigenes, vielleicht sogar das von Madeleine. Er ließ den Wagen an und fuhr weiter.
    Die Adresse, zu der ihn das GPS dirigierte, lag am Ortsrand und gehörte zu einem unscheinbaren, weit zurückversetzten Kolonialbau mit einem überdimensionalen Grundstück an einer verkehrsarmen Nebenstraße ohne Gehsteige. An den Seiten und hinten war das Anwesen von einer hohen, dichten Thujahecke umgeben. Vorne waren Buchsbäume gepflanzt worden und bildeten eine brusthohe Abgrenzung, die nur vom Eingang zur Auffahrt durchbrochen war. Überall standen Polizeiwagen - mehr als ein Dutzend, schätzte Gurney -, wild durcheinander geparkt und blockierten teilweise sogar die Straße. Die meisten trugen die Abzeichen der Polizeidienststelle Wycherly. Drei waren Zivilautos mit tragbaren roten Warnlichtern
auf dem Armaturenbrett. Polizeifahrzeuge des Staates Connecticut fehlten völlig - was aber kaum überraschte. Es mochte zwar nicht der klügste und effektivste Ansatz sein, aber Gurney verstand natürlich, dass eine örtliche Polizeidienststelle die Sache selbst in die Hand nehmen wollte, wenn ein Kollege aus ihren Reihen das Opfer war. Als er den Wagen auf einen schmalen Grasstreifen am Asphaltrand manövrierte, deutete ein hünenhafter junger Polizist in Uniform einen Bogen um die geparkten Streifenwagen an und winkte hektisch mit der anderen Hand, um ihn zu verscheuchen. Gurney stieg aus und zückte seinen Ausweis, während sich der Riese mit zusammengekniffenen Lippen näherte. Die hervortretenden Halsmuskeln, die gegen einen eineinhalb Nummern zu kleinen Kragen ankämpften, schienen sich bis zu den Wangen

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