Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
jungen erfolgreichen Kunden ein, die dort verkehrten, und damit unweigerlich auch Kyle. Er spürte förmlich, wie er innerlich zusammenzuckte. Das war seine Standardreaktion.
Wahrscheinlich entsprang sie dem enttäuschten Wunsch nach einem Sohn, der zu einem intelligenten Polizistenvater aufblickte und sich wirklich für Gurneys Rat interessierte. Kyle hingegen war unbelehrbar und unberührbar in seinem lächerlich teuren Porsche, den er sich mit seinem wahnwitzig hohen Gehalt an der Wall Street schon im Alter von vierundzwanzig leisten konnte. Trotzdem schuldete Gurney dem jungen Mann einen Rückruf, auch wenn er bestimmt nur wieder über seine neueste Rolex oder den letzten Trip nach Aspen plaudern wollte.
Gurney bezahlte den Kaffee und kehrte zum Auto zurück. Gerade als er über den bevorstehenden Anruf nachgrübelte, klingelte sein Telefon. Seltsame Zufälle konnte er nicht ausstehen, und so war er erleichtert, dass es nicht Kyle war, sondern Mark Mellery.
»Gerade habe ich die heutige Post gekriegt. Bei dir zu Hause hab ich dich nicht erreicht. Madeleine hat mir deine Handynummer gegeben. Es macht dir hoffentlich nichts aus, dass ich anrufe.«
»Was ist los?« »Mein Scheck ist zurückgekommen. Der Besitzer des Postfachs in Wycherly, an das ich den Scheck über 289,87 Dollar für Arybdis geschickt habe, hat ihn mir zurückgesandt mit einer Notiz, auf der steht, dass es niemanden gibt, der so heißt, und dass ich mich in der Adresse geirrt haben muss. Aber ich hab sie noch mal überprüft. Es war die richtige Postfachnummer. Davey, bist du noch da?«
»Ja, ich bin da. Das muss ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen.«
»Ich lese dir die Notiz vor: ›Den beigefügten Brief habe ich in meinem Postfach gefunden. Es handelt sich wohl um die falsche Adresse. Einen X. Arybdis gibt es hier nicht.‹ Unterschrift: Gregory Dermott. Auf dem Briefkopf
steht: ›GD-Sicherheitssysteme‹, dazu eine Adresse und Telefonnummer in Wycherly.«
Gurney war sich nun ziemlich sicher, dass X. Arybdis kein echter Name war, sondern ein merkwürdiges Wortspiel mit dem Namen des Strudels aus der griechischen Mythologie, verkniff sich aber eine entsprechende Bemerkung, weil die Sache auch so schon beunruhigend genug war. Mit der Enthüllung dieses Zusatzschnörkels konnte er warten, bis er im Institut war. Er versprach Mellery, in einer Stunde bei ihm zu sein.
Verdammt, was lief da eigentlich? Das passte doch alles nicht zusammen. Wie kam jemand dazu, einen bestimmten Geldbetrag zu fordern, den Scheck auf einen mythologischen Namen ausstellen und ihn dann an eine falsche Adresse schicken zu lassen, in der Gewissheit, dass er an den Absender zurückgehen würde? Wozu diese komplexe und abstruse Einleitung zu den folgenden hinterhältigen Gedichten?
Der Fall wurde immer verwirrender - und Gurneys Neugier immer größer.
10
Ein vollkommener Ort
Die Stadt Peony war gleich in zweifacher Hinsicht abgetrennt von der Geschichte, die sie widerzuspiegeln trachtete. Bei Woodstock gelegen, berief sie sich auf die gleiche psychedelische Batikhemdenvergangenheit, während Woodstock wiederum die eigene Ersatzaura aus der Namensassoziation mit dem marihuanaumnebelten Rockfestival bezog, das in Wirklichkeit auf einer achtzig Kilometer entfernten Farm in Bethel stattgefunden hatte. Peonys Image war das Produkt von Rauch und Spiegeln, und auf diesem schwammigen Fundament waren vorhersehbare kommerzielle Strukturen entstanden: New-Age-Buchläden, Tarotsalons, wiccanische und druidische Etablissements, Tattoo-Shops, Performance-Räume, vegane Restaurants - ein Gravitationszentrum für Blumenkinder, die sich dem Greisenalter näherten, für Deadheads in alten VW-Bussen und für eklektische Spinner, deren Garderobe vom Feder- bis zum Lederkleid reichte.
Natürlich gab es zwischen diesen farbenprächtig schrulligen Erscheinungen für Touristen reichlich Gelegenheit zum Geldausgeben. Geschäfte und Lokale mit ausgefallenem Namen und Dekor wandten sich mit einem genau abgestimmten Angebot an betuchte Gäste, die sich auf einem Kulturtrip wähnten.
Das lose Netz von Straßen, das vom Geschäftszentrum
der Stadt ausstrahlte, führte direkt zum Geld. Nach 9/11 hatten sich die Immobilienpreise verdoppelt und verdreifacht, als New Yorker mit beträchtlichen Mitteln und galoppierendem Verfolgungswahn von der Sehnsucht nach einer ländlichen Zufluchtsstätte gepackt wurden. Die Häuser an den Hügeln um den Ort wurden immer mehr und immer größer,
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