Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
den Augen verlor. Bei einer Lücke im Strauchwerk trat sie zur Seite und dirigierte Gurney auf eine schmale Abzweigung. Als er neben ihr anlangte, stieß sie den Regenschirm in Richtung des offenen Fensters.
»Nehmen Sie ihn!«, rief sie.
Verdutzt bremste er.
»Sie wissen doch, wie das ist mit dem Wetter in den Bergen«, erklärte sie.
»Ich komme schon klar, danke.« Gurney beeilte sich, an ihr vorbei auf den Parkplatz zu fahren, auf dem er sechzehn Autos zählte. Damit war er ungefähr zur Hälfte besetzt. Der klare, rechteckige Bereich schmiegte sich zwischen die allgegenwärtigen Blumen und Sträucher. Eine erhabene Rotbuche am hinteren Ende trennte den Parkplatz von einer zweistöckigen Scheune ab, die hell im schrägen Sonnenlicht schimmerte.
Er suchte sich eine Stelle zwischen zwei gewaltigen Geländewagen aus. Während des Parkmanövers bemerkte er eine Frau hinter einem niedrigen Dahlienbeet, die ihn beobachtete. Als er ausstieg, lächelte er ihr höflich zu. Die zierliche Gestalt mit den zarten Gesichtszügen strahlte etwas veilchenhaft Altmodisches aus. Als Schauspielerin wäre sie die Idealbesetzung für ein Stück über Emily Dickinson , dachte Gurney.
»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Mark...«
Das Veilchen unterbrach ihn mit einer eigenen Frage: »Wer hat Ihnen denn erlaubt, dass Sie Ihre Scheißkarre hier parken?«
11
Ein besonderes Amt
Vom Parkplatz aus führte ein Kopfsteinpflasterweg um das Herrenhaus, das nach Gurneys Vermutung als Büro und Vortragszentrum des Instituts diente, ungefähr hundertfünfzig Meter weit zu einem kleineren Bau aus derselben Epoche. Auf einem kleinen Schild stand in goldenen Lettern: PRIVATRESIDENZ.
Noch bevor Gurney klopfen konnte, öffnete Mark Mellery die Tür. Er trug die gleiche zwanglos kostspielige Kleidung wie bei seinem Besuch in Walnut Crossing. Vor dem Hintergrund der Architektur des Instituts und der Gärten verlieh sie ihm die Aura eines Gutsherrn.
»Schön, dich zu sehen, Davey!«
Gurney trat in eine geräumige Diele mit Kastanienholzboden und antiken Möbeln, und Mellery schritt voran zu einem gemütlichen Arbeitszimmer. Das sanft knisternde Feuer im Kamin erfüllte den ganzen Raum mit einem zarten Duft nach Kirschholzrauch.
Links und rechts vom Kamin standen sich zwei Ohrensessel gegenüber und bildeten zusammen mit dem Sofa vor der Feuerstelle einen U-förmigen Sitzbereich. Als sie sich auf den Sesseln niedergelassen hatten, erkundigte sich Mellery, ob Gurney sich auf dem Grundstück gleich zurechtgefunden hatte. Gurney berichtete ihm von den drei merkwürdigen Begegnungen, und Mellery erklärte ihm,
dass es sich um Gäste des Instituts handelte und dass ihr Verhalten Teil ihrer Selbstfindungstherapie war.
»Im Verlauf des Aufenthalts hier«, setzte Mellery hinzu, »nimmt jeder Gast zehn verschiedene Rollen ein. An einem Tag ist er zum Beispiel der Fehlermacher - das klingt nach der Rolle, die Worth Partridge gespielt hat, der Engländer. An einem anderen Tag ist er der Helfer - das war die Rolle von Sarah, die deinen Wagen abstellen wollte. Dann gibt’s noch die Rolle des Konfrontierers. Die letzte Dame, die du getroffen hast, hat diesen Part wohl mit besonderem Elan interpretiert.«
»Und wozu das Ganze?«
Mellery lächelte. »Alle Menschen spielen in ihrem Leben bestimmte Rollen. Der Inhalt dieser Rollen - das Drehbuch, wenn man so will - ist in sich schlüssig und berechenbar, obwohl er im Allgemeinen unbewusst bleibt und nicht als frei wählbar wahrgenommen wird.« Obwohl er diese Sätze in ähnlicher Form sicher schon Hunderte von Malen gesprochen hatte, schien er sich für sein Thema zu erwärmen. »Was wir hier machen, ist eigentlich ganz einfach, auch wenn viele unserer Gäste es für sehr tiefgründig halten. Wir machen sie darauf aufmerksam, welche Rollen sie unbewusst spielen, welche Vor-und Nachteile diese Rollen mit sich bringen und wie sie sich auf andere auswirken. Wenn unsere Gäste dann erst einmal ihre Verhaltensmuster bei Licht betrachten, unterstützen wir sie in der Erkenntnis, dass sie jedes Muster frei wählen können. Und dann - das ist der wichtigste Teil - bieten wir ihnen ein Aktionsprogramm, damit sie schädliche Muster durch gesündere ersetzen können.«
Gurney fiel auf, dass die Angst des Mannes beim Reden zurücktrat. In seinen Augen war ein missionarischer Funken erwacht.
»Abgesehen davon kommt dir das alles vielleicht bekannt vor. ›Muster‹, ›Wahlfreiheit‹ und ›Wandel‹ sind
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