Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Geländewagen der Sorte Blazer oder Bronco mussten Fahrzeugen der Marke Hummer und Land Rover weichen, und die Menschen, die das Wochenende auf dem Land verbrachten, trugen, was ihnen Ralph Lauren fürs Landleben vorschrieb.
Jäger, Feuerwehrleute und Lehrer wurden verdrängt von Anwälten, Bankern und Frauen in einem gewissen Alter, die mit ihrer Scheidungsabfindung kulturelle Aktivitäten, Hautbehandlungen und bewusstseinserweiternde Verbindungen zu Gurus der einen oder anderen Art finanzierten. Vermutlich hatte dieser Appetit der Einwohner auf gurugestützte Lösungen für sämtliche Lebensprobleme Mark Mellery dazu bewogen, hier seine Zelte aufzuschlagen.
Kurz vor der Ortsmitte bog er vom County-Highway ab und folgte seinen Google-Maps-Anweisungen bis zur Filchers Brook Road, die sich über einen waldigen Hügel nach oben wand. Schließlich fiel ihm eine etwa ein Meter hohe Schiefermauer auf, die drei Meter von der Straße zurückversetzt fast einen halben Kilometer neben ihr entlanglief. Der Seitenstreifen war dicht mit hellblauen Astern bedeckt. Ungefähr in der Mitte des langen Walls befanden sich in einem Abstand von rund zwanzig Metern zwei offizielle Lücken: Anfang und Ende einer halbkreisförmigen Auffahrt. Neben der ersten Öffnung hing ein diskretes Bronzeschild mit der Aufschrift MELLERY INSTITUT FÜR SPIRITUELLE ERNEUERUNG.
Als Gurney in die Auffahrt bog, sprang ihm die Ästhetik des Orts förmlich ins Auge. Wohin er auch blickte, alles strahlte eine beiläufige Vollkommenheit aus. Neben der gekiesten Fahrstraße wuchsen Herbstblumen in scheinbar zufälliger Freiheit. Dabei war er sich sicher, dass dieses Erscheinungsbild genauso sorgfältig inszeniert war wie das von Mellery selbst. Wie an vielen Treffpunkten für Reiche mit zurückhaltendem Lebensstil herrschte eine Atmosphäre peinlich genau berechneter Zwanglosigkeit und Natürlichkeit vor, in der keine welkende Blume unbeschnitten blieb. Schließlich gelangte Gurney zu einem stattlichen Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, das genauso sachte instand gehalten war wie die Gärten.
Vor dem Haus wartete ein imposanter Mann mit rotblondem Bart, der ihn neugierig beäugte. Gurney ließ das Fenster herunter und fragte nach dem Parkplatz. Mit affektiertem britischen Akzent erwiderte der Mann, dass er der Auffahrt bis zum Ende folgen sollte.
Leider gelangte Gurney auf diese Weise durch die andere Öffnung zurück auf die Filchers Brook Road. Er benutzte wieder den Eingang und blieb auf der Auffahrt, bis er erneut vor dem Haus stoppte, wo ihn der große Engländer voller Interesse musterte.
»Am Ende der Auffahrt bin ich auf der öffentlichen Straße gelandet«, bemerkte Gurney. »Hab ich da was verpasst?«
»Nein, was bin ich nur für ein Narr!« Die übertriebene Verlegenheit wollte nicht so recht zur natürlichen Haltung des Mannes passen. »Ich meine immer, dass ich alles weiß, aber meistens irre ich mich!«
Gurney streifte plötzlich der Verdacht, dass er es mit einem Irren zu tun hatte. Plötzlich bemerkte er eine zweite Gestalt. Etwas weiter hinten, im Schatten eines riesigen
Rhododendronstrauchs hatte sich ein dunkelhaariger, untersetzter Mann postiert, der aussah, als wollte er für Der Pate vorsprechen.
»Ah!« Voller Begeisterung deutete der Engländer ein Stück nach vorn. »Da haben Sie Ihre Antwort! Sarah wird sie unter ihre Fittiche nehmen. Bei ihr sind Sie goldrichtig!« Mit dieser in hochdramatischem Ton vorgebrachten Bemerkung machte er kehrt und schritt davon, gefolgt von dem Karikaturgangster.
Gurney fuhr weiter bis zu der Frau, der die Fürsorglichkeit geradezu ins rundliche Gesicht geschrieben stand.
Ihre Stimme verströmte Empathie. »Ach du liebe Zeit, wir lassen Sie hier im Kreis herumfahren. Wirklich keine nette Art, einen Gast zu begrüßen.« Das Ausmaß an Betroffenheit in ihren Augen war geradezu alarmierend. »Hören Sie, ich stelle den Wagen für Sie ab, dann können Sie gleich reingehen.«
»Das ist nicht nötig. Könnten Sie mir einfach sagen, wo der Parkplatz ist?«
»Natürlich! Folgen Sie mir bitte. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie sich nicht noch mal verfahren.« Es klang, als hätte sie sich damit eine gewaltige Aufgabe aufgeladen.
Mit einer weit ausholenden Geste winkte sie ihm, als würde sie eine Karawane kommandieren. In der anderen Hand trug sie einen geschlossenen Regenschirm. Mit ihrem bedächtigen Tempo tat sie kund, wie sehr ihr daran gelegen war, dass Gurney sie nicht aus
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