Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
die meistbenutzten Begriffe in der gesamten schäbigen Selbsthilfewelt. Aber von unseren Gästen hören wir immer wieder, dass es bei uns anders ist - im Kern ist unser Konzept anders. Erst neulich hat einer von ihnen zu mir gesagt: ›Gott hält diesen Ort in seiner Hand.‹«
Gurney bemühte sich, jede Skepsis aus seiner Stimme zu verbannen. »Das therapeutische Erlebnis, das hier geboten wird, muss ziemlich stark sein.«
»Manche würden es so bezeichnen.«
»Ich habe gehört, dass es bei wirkungsvollen Therapien zu heftigen Konfrontationen kommt.«
»Hier nicht«, erwiderte Mellery. »Unser Ansatz ist sanft und einladend. Unser Lieblingspronomen heißt wir , nicht sie . Wir sprechen von unseren Fehlern, Ängsten und Grenzen. Wir deuten nie auf andere und machen ihnen auch nie Vorwürfe. Nach unserer Überzeugung führen Vorwürfe eher dazu, die Mauern des Leugnens zu stärken, als sie niederzureißen. Wenn du dir mal eins meiner Bücher durchsiehst, wirst du diese Philosophie besser begreifen.«
»Ich dachte nur, dass vielleicht in der Praxis manchmal Dinge passieren, die nicht zur Philosophie passen.«
»Wir tun, was wir sagen.«
»Überhaupt keine Konfrontationen?«
»Warum reitest du auf dieser Frage herum?«
»Ich habe mich gefragt, ob du mal jemanden so in die Eier getreten hast, dass er jetzt zurücktreten möchte.«
»Bei unserem Ansatz wird nur selten jemand wütend. Außerdem, wer mein Brieffreund auch ist, er stammt aus einem Teil meines Lebens, der lange vor der Institutsgründung liegt.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Ein verwirrtes Stirnrunzeln erschien auf Mellerys Gesicht. »Er ist auf meine Zeit als Trinker fixiert, auf etwas, was ich im betrunkenen Zustand getan habe, also muss es vor der Gründung des Instituts gewesen sein.«
»Es könnte aber auch jemand aus der Gegenwart sein, der aus deinen Büchern von deinem früheren Alkoholkonsum erfahren hat und dir einen Schreck einjagen will.«
Während sich Mellerys Blick auf ein ganz neues Bündel von Möglichkeiten richtete, trat eine junge Frau ein. Sie hatte intelligente grüne Augen und rotes Haar, das als Pferdeschwanz nach hinten gebunden war.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich dachte, Sie wollen vielleicht Ihre Telefonnotizen sehen.«
Sie reichte Mellery einen kleinen Stoß rosa Notizzettel. Seiner überraschten Miene entnahm Gurney, dass er nicht oft in dieser Weise unterbrochen wurde.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Zumindest sollten Sie vielleicht einen Blick auf die ganz oben werfen.«
Mellery las sie zweimal, dann beugte er sich vor und reichte den Zettel an Gurney weiter.
In der »An«-Zeile stand Mr. Mellery, in der »Von«-Zeile X. Arybdis.
Im Notizfeld waren Verse notiert:
Zwei Wahrheiten gibt es, erinner dich
Und wiederhol sie dir innerlich:
Jede Tat hat ihren Preis,
Und jeder Preis wird gezahlt.
Heut Nacht ruf ich an und sag, was ich weiß,
Und sag, wir treffen uns bald:
Ich seh dich im November,
Wenn nicht, dann im Dezember.
Gurney fragte die junge Frau, ob sie die Nachricht selbst entgegengenommen hatte.
Mellery fing ihren nervösen Blick auf. »Entschuldigung, ich habe euch noch gar nicht miteinander bekannt gemacht. Sue, das ist Dave Gurney, ein guter, alter Freund von mir. Dave, darf ich vorstellen, meine wunderbare Assistentin, Susan MacNeil.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Susan.«
Sie lächelte höflich. »Ja, ich habe die Nachricht entgegengenommen.«
»Mann oder Frau?«
Sie zögerte. »Seltsam, dass Sie fragen. Zuerst dachte ich, ein Mann. Ein Mann mit einer hohen Stimme. Dann war ich mir nicht mehr sicher. Die Stimme hat sich verändert.«
»Inwiefern?«
»Zuerst hat es sich angehört wie ein Mann, der wie eine Frau klingen will. Dann kam es mir auf einmal umgekehrt vor: eine Frau, die einen Mann nachmacht. Es war irgendwie unnatürlich, gezwungen.«
»Interessant«, stellte Gurney fest. »Noch was anderes: Haben Sie alles aufgeschrieben, was die Person gesagt hat?«
Sie überlegte. »Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«
Er hielt den rosa Zettel hoch. »Für mich sieht das aus, als wäre Ihnen die Nachricht sorgfältig diktiert worden, auch die Zeilenenden.«
»Das stimmt.«
»Dann hat er Ihnen doch bestimmt gesagt, dass die Anordnung der Zeilen wichtig ist und dass Sie sie genauso notieren sollen, wie er sie diktiert.«
»Ach so, verstehe. Er hat tatsächlich angegeben, wo ich die neuen Zeilen beginnen soll.«
»Wurde sonst noch was gesprochen, was hier
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