Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Barschlägerei greift, wenn man weder Messer noch Pistole zur Hand hat. Was soll einen Mann, der schon eine geladene Schusswaffe dabeihat, dazu bewegen, eine zerbrochene Flasche mitzuschleppen und sie zu benutzen, nachdem er sein Opfer bereits erschossen hat?«
»Um sicher zu sein, dass es tot ist?«, spekulierte Rodriguez.
»Aber warum sollte er dann nicht einfach noch mal auf ihn schießen? Auf den Kopf? Und warum hat er nicht gleich auf den Kopf gezielt? Wieso auf den Hals?«
»Vielleicht ein miserabler Schütze.«
»Aus eineinhalb Metern?« Kline schaute wieder Thrasher an. »Ist die Reihenfolge gesichert? Erst der Schuss, dann die Stiche?«
»Ja, zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wie wir vor Gericht immer sagen. Es gibt zwar nur wenige Schmauchspuren, aber sie sind deutlich sichtbar. Wäre der Hals zum Zeitpunkt des Schusses von den Stichwunden bereits blutbedeckt gewesen, wären kaum erkennbare Schmauchspuren aufgetreten.«
»Und wir hätten die Kugel gefunden.« Die Stimme der Rothaarigen war so sachlich leise, dass nur wenige sie vernahmen. Kline gehörte zu ihnen. Auch Gurney. Er hatte sich schon gefragt, wann jemand auf diesen Gedanken kommen würde. Hardwicks Miene war undurchdringlich, aber er schien nicht überrascht.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Kline.
Sie antwortete, ohne den Blick vom Notebook zu nehmen. »Wären ihm beim ersten Angriff vierzehn Stichverletzungen zugefügt worden, vier davon durch den ganzen Hals, hätte er wohl kaum mehr aufrecht gestanden. Und wenn ihn die Kugel im Liegen getroffen hätte, hätte sie auf dem Boden unter ihm sein müssen.«
Kline taxierte sie. Im Gegensatz zu Rodriguez war er offenbar klug genug, um Intelligenz zu respektieren.
Der Captain unternahm wieder einen Versuch, sich als Herr der Situation zu zeigen. »Um welches Kaliber handelt es sich, Doctor?«
Thrasher funkelte ihn über den Rand seiner Lesebrille an, die noch weiter seine lange Nase hinuntergerutscht
war. »Was muss ich tun, damit ihr endlich die simpelsten Fakten der Pathologie begreift?«
»Ich weiß, ich weiß«, entgegnete Rodriguez mürrisch. »Fleisch ist nachgiebig, es schrumpft, es dehnt sich, was Genaues lässt sich nicht sagen, und so weiter und so weiter. Aber würden Sie eher auf.22 tippen oder auf.44? Können Sie eine begründete Vermutung anstellen?«
»Für Vermutungen werde ich nicht bezahlt. Außerdem erinnert sich nach fünf Minuten niemand mehr, dass es nur eine Vermutung war. Später heißt es dann bloß, der Gerichtsmediziner hat was von.22 erzählt und sich geirrt.« Ein wissendes Glitzern lag in seinen Augen. »Wenn ihr die Kugel aus der Wand grabt und sie zur ballistischen Untersuchung schickt, dann …«
»Doctor.« Kline klang wie ein kleiner Junge, der eine Frage an Mr. Wizard stellt. »Ist es möglich, die genaue Zeitspanne zwischen dem Schuss und den späteren Stichen zu schätzen?«
Der Ton der Frage schien Thrasher zu besänftigen. »Wenn zwischen beiden eine längere Zeitspanne läge, würden wir Blut in zwei verschiedenen Gerinnungsstadien finden. In diesem Fall sind die zwei Verletzungstypen so dicht hintereinander aufgetreten, dass eine derartige Unterscheidung nicht möglich ist. Wir können nur feststellen, dass es eine kurze Zeitspanne war, aber ob zehn Sekunden oder zehn Minuten, lässt sich nicht sagen. Doch es ist eine interessante pathologische Frage.« Offenbar war ihm wichtig, den Niveauunterschied zwischen dem Bezirksstaatsanwalt und dem Captain hervorzuheben.
Um Rodriguez’ Mund zuckte es. »Wenn das alles ist, was Sie uns im Moment mitteilen können, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten, Doctor. Den schriftlichen Bericht bekomme ich spätestens in einer Woche?«
»Ich glaube, das sagte ich bereits.« Thrasher nahm seine prall gefüllte Aktentasche vom Tisch, nickte dem Bezirksstaatsanwalt mit dünnlippigem Lächeln zu und verließ das Zimmer.
23
Spurlos
»Endlich sind wir diese pathologische Nervensäge los.« Rodriguez suchte in der Runde nach Zeichen von Anerkennung für seinen Witz, erntete aber nur das Dauergrinsen der Cruise-Zwillinge. Um das Schweigen zu durchbrechen, bat Kline Hardwick, seinen Bericht über den Tatort zu beenden.
»Das wollte ich auch gerade sagen«, fiel Rodriguez ein. »Hardwick, fahren Sie fort, wo Sie aufgehört haben, und halten Sie sich an die Fakten.«
Gurney konstatierte, wie berechenbar das Verhalten des Captain war: feindselig gegen Hardwick, kriecherisch
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