Die Hebamme
beugte. Es war eine mühsame Angelegenheit, die verblichene Schrift zu lesen, besonders an den Stellen, wo die Tinte verlaufen war – bestimmt, dachte Gesa, ganz sicher waren dort die Tränen ihrer Mutter auf die Schrift ihres Vaters getroffen. Marie, die so lange darauf warten musste, dass er sie seine Vielgeliebte nannte.
… wo ich dich vor drei Jahren zurücklassen musste …
Vor drei Jahren. Gesas Zeigefinger glitt über das mürbe Papier, folgte den schief abfallenden Zeilen bis zum Ende des Bogens.
… 16ten October 1782
Drei Jahre.
»Sie musste lange drauf warten, und jetzt sollte sie sich freuen. Aber sie konnte nicht. Es war was dazwischengekommen«, hatte Bele gesagt. »Der Dummkopf hatte sie nicht rechtzeitig geholt.«
Das waren Beles Worte gewesen, bevor sie starb. Der Dummkopf, ihr Vater. Nichts sonst hatte sie je über ihn erfahren.
»Ich will über Marie sprechen, über niemanden sonst.«
Bele, die Schweigsame. Gesa, ihr Schatten.
… dass ich endlich an einem Platz bin, meine Marie, der unsere Heimat sein kann. Nach Zeiten harter Prüfungen, in denen wir ohne einander sein mussten. Ich habe gute Arbeit als Zimmermann, alle Handwerker haben es gut in Amerika. Jetzt kann ich eine Familie ernähren. Wenn wir Kinder haben werden
Sie versuchte es zu verstehen.
Wenn wir Kinder haben werden, dann müssen sie keine Armut kennen lernen. Kein gequältes Leben.
Während Gesa den Brief viele Male las, während sie sich bemühte zu begreifen, was er bedeutete, und während sich alles in ihr sträubte, die Wahrheit zuzulassen, setzte sich von einem der großen Höfe im nächsten Tal ein Fuhrwerk in Bewegung, das wenig später vor ihrem Haus zum Stehen kam. Sie hörte das Schnalzen des Fuhrknechts, das Schnauben des Pferdes, das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder auf dem Sandboden.
Noch bevor es klopfte, öffnete sie die Tür und erfuhr, dass Jula, die Bäuerin des Eichenhofes, in den Wehen lag. Man hatte den Knecht nach der Hebamme geschickt, und da war er nun, sehr eilig. Es war Schlachttag auf dem Hof, und jede Hand wurde gebraucht.
»Ich …«, sagte Gesa und rührte sich nicht von der Stelle.
»Was?«, fragte der Knecht.
»Nichts.«
Sie trat zurück und übergab ihm den Gebärstuhl, der zusammengeklappt an der Flurwand lehnte. In der Vorratskammer entnahm sie den Kräuterbündeln, was sie brauchte, und von einem der Borde eine Steingutflasche mit Öl. Ihre Tasche, die einmal Beles gewesen war, lag auf der Bank. Sie war vorbereitet.
Als Gesa das Licht ausblies, verschwanden die Worte ihres Vaters in der Dämmerung.
Nie hat es mich gereut, dass ich fortgegangen bin, nur, dass ich dich nicht gleich mit mir genommen habe .
Behutsam faltete sie den Brief, wickelte ihn in das Kinderhemd und schob es in ihr Leibchen, bevor sie das Schultertuch darüber kreuzte.
Umso fröhlicher wird dein Ankommen sein.
Als sie dem Hof entgegenfuhren, zog ein kalter Wind über die gepflügten Felder. Von den Bäumen zerrte er das trockene Laub und jagte es über die Erde, in der bereits die Wintersaat ruhte. Die Sonne sank hinter fliegenden Wolken, versah sie mit einem roten Saum. Die Mähne des Pferdes fiel im Galopp auf und nieder, und die Zügel schwangen über seine mächtigen Hinterbacken. Hinten hörte sie den Gebärstuhl klappern, der dort hastig festgezurrt worden war. Das Geräusch begleitete den abgerissenen Klang der Sätze, die sich in Gesa immer weiter Gehör verschafften.
… schicke dir spanische Dollar für die Überfahrt … finde keine Worte für meine Liebe …
»Dieses fremde Geld«, hörte sie Tante Bele husten, »das fremde Geld. Ich hab’s deiner Mutter ins Totenhemd genäht.«
… werde alles wieder gutmachen, was du ohne mich entbehren musstest … mach dich nur schnell auf die Reise zu mir, Kaspar.
»Zu spät«, tönte Bele. »Nicht rechtzeitig …«
Wenn wir Kinder haben werden …, hatte Kaspar Langwasser geschrieben. Aus Chicago.
Chicago, den 16ten October 1782
Als vor ihnen das lang gestreckte Gehöft auftauchte, neben einer Gruppe von alten Eichen, als sie Rufe hörte und über dem Haupthaus Rauch aufsteigen sah, hatte Gesa endlich begriffen, dass ihr Vater nie von ihrer Existenz erfahren hatte.
Julas erstes Kind hatte Bele auf die Welt geholt, noch bevor Gesa sie begleitete. Dorit, inzwischen sieben Jahre alt, lief ihr durch das geschäftige Treiben auf dem Hof entgegen. Ungeduldig wartete sie, während Gesa den Gebärstuhl losband.
»Endlich kommst du!«, rief
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