Die Hebamme
angeblich von der Braut, das es aber aus Gründen der Schicklichkeit in Wahrheit nicht war. Man applaudierte, als jemand es fing, helle Stimmen wurden laut, womöglich auch die von Therese.
Seine Braut, die sich so sehnte und die er enttäuschen würde.
Jede Nacht kam Clemens zu ihr. Er beugte sich über sie, und seine Haarsträhne fiel ihm über die Augen.
»Was willst du?«, fragte sie dann. Aber er antwortete nie.
Sein Blick zerschmolz auf ihrem Gesicht, und ihr Herzschlag bewegte das Betttuch.
Die Dunkelheit war derzeit Gesas liebste Begleiterin. Auch an dem Tag ihrer Ankunft, als sie die bewaldete Anhöhe erreicht hatte und unten in der Senke das Dorf sah, wie es dalag und auf sie wartete. Sie hatte Kinder Kartoffeln ausgraben und sich barfüßig über die Äcker jagen sehen. Sie wusste genau, wie sich der Boden in den Furchen anfühlte. Wie es war, wenn unter den Füßen Erdkrusten auseinander brachen, im Innern feucht und kühl – Erde, die am Rist kleben blieb und lehmig zwischen den Zehen hervorquoll.
Erst mit Einsetzen der Dämmerung hatte Gesa es gewagt weiterzugehen, langsam, damit niemand sie entdecken würde. Im Schutz der Dunkelheit lief sie von der Fallwiese aus dem kleinen Haus entgegen, das sich am Ende der Dorfstraße befand: Tante Beles Haus, mit einem Gemüsegarten, der in drei schmalen Terrassen angelegt war. Das Haus der Hebamme.
Sie schlich die Außentreppe hinauf und legte die Finger in die Spirale, die neben der Türe im Kalkputz des Fachwerks eingeritzt war. Sie musste etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als sie das Zeichen zum ersten Mal entdeckt hatte. Kleine aneinander gereihte Punkte, denen sie daraufhin immer wieder gefolgt war. So oft hatte sie die Linie ertastet, dass der raue Putz unter ihren Fingern mit den Jahren glatter geworden war. Immer war es für sie eine Reise gewesen, sie selbst, Gesa, das Kind, ein kleiner Punkt in der Mitte, der stetig weitere Kreise zog.
Drinnen empfing sie die Kälte eines unbelebten Hauses und auch die Dunkelheit. In der Küche tastete sie sich zur Bank, ließ sich dort nieder und fror. Sie zog das Tuch um die Schultern, schaute die Schatten an, sie fühlte sich schlecht und weinte. Die Tränen wurden kalt, und es zwickte auf der Haut, als sie trockneten. Gesa blieb regungslos sitzen, während draußen irgendwo Schött, der Nachtwächter, ins Horn blies. Wie alle im Dorf hörte sie ihn die Stunde ausrufen.
Als Schött an der Haustür rüttelte, sie offen fand und die Laterne in den engen Flur hielt, rührte sie sich noch immer nicht. Auch als er etwas murmelte und sich mit schweren Schritten der Küche näherte.
»Du bist wieder da«, stellte er fest, und sie blickte auf, hinüber zu Schött, der alt war, seit sie ihn kannte. Nie hatte sie in ihm etwas anderes als einen alten Mann gesehen unter dem breitkrempigen Hut und dem schwarzen Umhang. Immer schon hatte Schött dieses graubärtige, verwitterte Gesicht gehabt.
»Hast du kein Licht nicht«, sagte er und kam zum Tisch. Aus den Falten seines Umhangs tauchten seine schwieligen Hände auf, mit denen er Tröge und Mulden schnitzte, Besen band und Maulwürfe fing. Er entzündete einen Kienspan an der Laterne und befestigte ihn in dem Leuchter auf dem Tisch. Er ließ sie zurück mit der Warnung, das Licht zu hüten, und Gesa machte ein Feuer im Herd, damit es am Morgen eine Glut gab. Nun wusste das Dorf, dass sie zurückgekehrt war.
Und dann am nächsten Morgen entdeckte sie eine fremde Frau. Gesa war mit klammen Gliedern aus dem Bett gekrochen, das sie in jener ersten Nacht nicht hatte wärmen können. Durch das kleine Fenster ihrer Kammer konnte sie an den Zweigen einer verblühten Schlehe vorbei in den Garten blicken, wo eine Frau Schwarzwurzeln zog. Sie richtete sich gerade auf.
Gesa ging hinaus zu ihr, und wie zuvor Schött sagte die Fremde: »Du bist also wieder da.«
Sie erklärte ihr, dass sie die Frau des neuen Dorflehrers war und man es ihr überlassen hätte, den Garten der Hebamme zu besorgen und dass sie dafür vom Gemüse für ihre Wintervorräte nehmen konnte.
»Selbstverständlich«, sagte Gesa. Die hagere Frau hatte sie abschätzig angesehen, während sie ihre Kiepe mit Sellerie, Kohl und Rüben füllte. Sie mochte etwa in Tante Beles Alter sein, dachte Gesa, und es kam ihr entgegen, dass sie offenbar ebenso wortkarg war. Unwillkürlich tastete sie nach ihrem Haarknoten, den sie noch nicht mit einem Käppchen bedeckt und verschnürt hatte, wie es hier zu Hause
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