Die Hebamme
Monstren halten, dachte Clemens. Dabei wird das, was nun kommt, noch schwerer für sie verständlich sein. Selbst ihm war es zu Beginn seines Studiums in Kassel so gegangen, als er vor einem Tuch aus schwarzer Wolle in die Knie ging, hinter dem in den Übungsstunden eine schwangere Frau verborgen stand. Nie würde er das Unbehagen vergessen, mit dem er sich durch die Öffnung in dem Vorhang getastet hatte und seine Hände die nackten Schenkel jener fremden Frau streiften, die man dazu angehalten hatte, ihre Röcke zu heben. Ihn hatte man auffordern müssen, nun endlich die Finger in die Genitalien einzuführen und dem Protokollanten den Befund eines Körperteils zu referieren, dem er auf diese Weise zum ersten Mal begegnete.
Hier in Marburg sah man von derlei Vorgehensweisen bei den Untersuchungen ab, aber zuweilen war er nicht sicher, ob dies eine glückliche Entscheidung war. Doch er durfte nicht immer wieder zweifeln, das brachte ihn nicht weiter.
Sie schreckte hoch, als sich die Tür öffnete. Frau Textor betrat mit einer der Schwangeren das Auditorium, und wieder hielt sie die Frau am Arm gepackt wie eine Gefangene, obwohl er die Institutshebamme schon unzählige Male um eine sanftere Verfahrensweise gebeten hatte. Wie immer hatte Frau Textor eine ruppige Art, die Schwangere auf dem Untersuchungstisch zu entblößen.
Erst später fand Clemens Gelegenheit, sich dafür zu schämen, dass er nicht damit aufhören konnte, die Jungfer Langwasser zu beobachten. Dabei bereitete es ihm keinerlei Vergnügen, sich vorzustellen, was das Geschehen bei ihr auslösen musste.
Er sah, dass die junge Schülerin den Blick der Frau auf dem Tisch suchte und ihn festhielt, bis diese unter den ersten Berührungen die Augen schloss.
Sie wünschte sich, Tante Beles Röcke zu hören, eine leise Bewegung, die sie stets dazu bewogen hatte, so zu tun, als würde sie schlafen. Denn manchmal war sie wach geworden, wenn Bele nachts an ihr Bett getreten war, und immer hatte sie dann spüren können, wie sie auf sie herabsah. So hatte sie es oft getan und dachte wohl, Gesa wüsste es nicht.
Tante Bele hatte die Welt mit einem Husten verlassen, und ihr letzter Atemzug klang empört, so als hätte sie nach Luft geschnappt. Es passte zu ihr. Wenn sie es schon nicht verhindern konnte, an einer Lungenentzündung zu sterben, dann verschied sie eben unter Protest. Gesa hatte die Totenwäscherin fortgeschickt und zunächst auch die anderen Dorffrauen, die sie aufsuchten. Alle wollten Bele sehen, als könnten sie es nicht glauben, dass die Hebamme gestorben war.
Sie verschloss die Tür des kleinen Hauses und hätte es gern mit Blumen geschmückt, doch die waren im Februar nicht zu haben. Sie entzündete Kerzen und stellte den Kienspanleuchter neben das Bett, um Tante Bele endlich so lange zu betrachten, wie sie wollte, und um sie zu weinen, ohne dass sie es ihr verbieten konnte.
Auf dem Feuer wärmte sie Wasser und gab etwas getrocknete Minze dazu, die Bele geschätzt hatte. Als Gesa es endlich wagte, ihr das Hemd auszuziehen, um sie zu waschen, war sie überrascht. Was sie sah, war der Körper einer jungen Frau. Feste Brüste, ein flacher Bauch und eine glatte Haut, die an keiner Stelle einen Riss aufwies. Beles siebenundvierzigjähriger Körper lag vor Gesa wie ein lang versteckter Schatz, den zu finden sich niemand die Mühe gemacht hatte. Oder den sie einfach für sich hatte behalten wollen. Sie hüllte ihn in eines von Beles schwarzen Kleidern und bedauerte zum letzten Mal, dass sie kein farbiges besaß.
Beles Hände rieb sie mit Öl ein, so wie sie es selbst immer getan hatte, wenn sie zu einer Frau gerufen wurde. Und dann küsste sie die Frau, mit der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, bis auf zwei Jahre, die fast im Dunkeln lagen. Sie streichelte ihr wächsernes Gesicht so lange sie wollte, und das dauerte einen ganzen Tag, bis die Männer kamen, um sie in den Sarg zu legen.
Im Leben hätte Tante Bele dergleichen niemals zugelassen.
Vor vielen Jahren hatte es Nächte gegeben, in denen Gesa sich vorstellte, Tante Bele sei verzaubert. Das hatte mit den Märchen zu tun, die sie in den Spinnstuben hörte und von denen sie jedes glaubte. Demnach musste es Elfen geben, die am Vogelsberg durch den Nebel tanzten, und von denen es hieß, sie hinterließen winzige Fußspuren auf den Wiesen. Gesa hatte nach ihnen gesucht, ohne je etwas anderes zu entdecken als Käfer, Schnecken und Steine. Doch es hielt sie nicht davon ab, eine Zeit lang
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