Die Hebamme
Studenten gegeben, auf deren Talent er sich in dieser Hinsicht lieber verließ. Allein, es fehlte an Material. Sowohl für das eine wie für das andere.
Es war das Ende eines unergiebigen Tages, als sich Professor Kilian in dem lächerlich kleinen Sammlungsraum neben dem Auditorium aufhielt und daran denken musste, mit welchen Ambitionen er nach Marburg gekommen war. Er hielt es für seine Pflicht, sich das immer wieder klar zu machen.
Die Kasseler Accouchieranstalt hatte er bis zu ihrer Schließung geleitet. Als der Landgraf das Collegium Carolinum auflösen ließ und seine Professoren nach Marburg versetzte, konnte Kilian auf eine Erfahrung von dreitausend Geburten zurückblicken. Eine ungeheuerliche Zahl, die von einem männlichen Geburtshelfer niemals zu erreichen war, sofern er nicht jahrelang an einer der wenigen Lehranstalten des Landes wirkte.
Sein Ruf als Arzt und Gelehrter war unumstritten, und Kilian wollte es nicht zulassen, dass sein berechtigter Stolz ihm abhanden kommen würde. Der Landgraf hatte ihn geholt, weil er Marburgs daniederliegende Fakultät gut beleumundet sehen und zu neuen Ehren bringen wollte. Er meinte wohl, damit hatte es sich. Das musste Kilian im Moment jedenfalls annehmen, zufrieden geben würde er sich damit nicht.
Es war auch nicht die Art des Professors, in Melancholie zu verfallen. Dafür war eher der Kollege Heuser zuständig, dieser dünnhäutige Mensch, der möglicherweise seinen Beruf verfehlt hatte, weil ihm alles immer so nahe ging. Doch nein, es wäre keine gerechte Sicht der Dinge, ihn in seiner Schwäche zu betrachten, denn Heusers Arbeiten zum engen Becken waren äußerst interessant. Nie würde Kilian das falsch bewerten.
Heusers Entwicklung neuer Messgeräte für das innere Becken fand in Kollegenkreisen höchste Anerkennung. Der Professor wünschte oft, er könnte dem jungen Arzt an seiner Seite mehr Enthusiasmus eingeben und die Fähigkeit, sich an seinem fortschreitenden Wissen zu erfreuen, anstatt immerfort daran zu verzweifeln. Sogar Professor Melander in Göttingen war auf Heuser aufmerksam geworden, und Kilian war umso erfreuter darüber, dass er den jungen Kollegen hatte überzeugen können, ihm nach Marburg zu folgen.
Doch hier entwickelte sich nichts nach seinen Vorstellungen – ganz im Gegenteil. Selbst der Winter, der die armen Weiber Zuflucht suchen ließ, damit sie nicht auf freiem Felde, in Scheunen, auf Abtritten und an anderen heimlichen Orten mit ihren unehelichen Kindern niederkommen mussten, selbst der Winter also hatte die Frauen nicht in das Haus Am Grün treiben können.
Zu Kasseler Zeiten hatten sie in den kalten Monaten zu zweit in den Betten gelegen, obwohl sich diese zuletzt weiß Gott in keinem guten Zustand mehr befunden hatten. Die Schlafstellen waren vollkommen verwanzt, das Holz verrottet und das Bettzeug nicht mehr guten Gewissens als solches zu bezeichnen. In seiner Ahnungslosigkeit hatte der Landgraf doch tatsächlich verlangt, diese Dinge aus Gründen der Ersparnis nach Marburg transportieren zu lassen, und er, Kilian hatte viel Überzeugungskunst aufbringen müssen, um den Landesherrn untertänigst von dieser törichten Idee abzubringen.
Das Haus in Kassel war alt gewesen, abgewirtschaftet und heruntergekommen. Dass man es geschlossen hatte, dauerte ihn nicht. Aber dieses hier war, als neu eröffnetes Institut zum Zweck der Lehre, beschämend. Es gab nicht mal einen ordentlichen Sektionsraum. Sollte ihnen überhaupt jemals Material zur Verfügung stehen, so mussten sie sich mit einem Kellerraum zufrieden geben, der äußerst notdürftig ausgestattet war. Sie benötigten neue Instrumente, und natürlich benötigten sie hin und wieder einen Leichnam.
Diesen Mangel, das war Kilian bekannt, litten die Kollegen in der Anatomie an der Ketzerbach jedenfalls ebenso wie er. Ihr Vorteil war, dass sie Leichen aus Irren- und Armenhäusern sowie aus den Gefängnissen beziehen konnten, aber es gab nie eine verlässliche Anzahl von Körpern, um einen anständigen Unterricht zu gewährleisten. Und zurzeit war die Versorgungslage wieder einmal schlecht.
Für den anatomischen Unterricht im Accouchierhaus war es dem Professor lediglich erlaubt, die Körper von Frauen und Kindern zu verwenden, die unter der Geburt starben. Natürlich wünschte sich das keiner, und er würde sich dergleichen von niemandem unterstellen lassen. Aber wie sollte er seinen Studenten die weibliche Anatomie erläutern, wenn er ihnen nicht einmal den Blick in eine
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