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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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doch nicht rechtzeitig geholt, der Dummkopf. Deshalb ist sie immer noch da. Jetzt ist Marie schwanger.«
    »Mit mir.«
    »Nein.«
    »Aber ja. Ich bin Maries Kind.«
    »Ach, du bist ein kleines Ding mit nacktem Hintern. Du hast Kittel an, die halten mit nichts als einem Bändchen. Das binden wir dir hinten an deinem kleinen Nacken zu, der riecht so schön, dein kleiner Nacken. Wir haben dir Kittel genäht, Marie und ich, aus abgetragenen Kleidern, damit dich bloß gar nichts kratzt. Du bist noch zu klein, um Röcke und Leibchen zu tragen, aber ich habe schon einen Stoff herausgesucht, den will ich besticken.«
    »Das ist schön, Tante Bele. Aber jetzt musst du schlafen.«
    »Nein. Du musst zuhören, was ich dir sage.«
    »Du kannst es mir später erzählen, wenn du ausgeruht bist. Du sollst dich nicht so anstrengen.«
    »Vielleicht wach ich nicht mehr auf, und dann hab ich’s dir nicht erzählt. Dann hab ich’s nicht gesagt, und das wäre schlimm. Oder es ist schon der Pfarrer da, wenn ich aufwache, und der muss das nicht wissen über Marie – der kennt doch Marie nicht.«
    Sie hatte sich die Seele aus dem Leib gehustet.
    »Tante Bele …«
    Sie war nicht zu beruhigen. Nicht einmal das fiebernasse Gesicht hatte sie ihr trocknen dürfen, und trinken wollte sie auch nichts.
    »Hör zu. Ich hab nicht mehr viele Worte zu machen. Wirst du jetzt still sein?«
    »Ja.«
    »Marie ist zu mir gekommen, und sie wollte, dass ich ihr helfe. Das war, als sie den Brief gekriegt hat. Sie hat ihn mir gezeigt. Jetzt wirst du mir doch helfen? Jetzt, wo ich endlich zu ihm kann. Sie zeigte mir dieses fremde Geld, das er hat schicken lassen. Für die Überfahrt. Sie musste lange darauf warten, und jetzt sollte sie sich freuen. Aber sie konnte nicht. Es ist was dazwischengekommen. Sie hat eine andere Reise angetreten, und das Geld hab ich ihr ins Totenhemd genäht. Nicht alles. Alles nicht.« Plötzlich waren Beles Hände von der Decke aufgeflogen, bis Gesa sie einfing und festhielt.
    »Was für ein Brief?«, fragte sie. »Wer hat ihr geschrieben?«
    »Ich will von Marie sprechen, über niemand sonst.«
    Bele wollte endlich darüber sprechen, dass sie sich die Schuld gab an Maries Tod. »Weil ich nein gesagt habe. Ich hab ihr nicht geholfen. Frag mich mal, warum? Ich hab mich das all die Jahre gefragt, immer wieder. Vielleicht war ich stolz, auf eine blödsinnige Weise. Weil ich nicht in den Ruf kommen wollte, dass man sich in diesen Fällen an mich wenden kann. Vielleicht fand ich es auch nicht so wichtig, das Glück, wie deine Mutter es suchte.«
    Es war merkwürdig gewesen, dieses Wort aus Beles Mund zu hören, fast machte es ihr Angst. Und vermutlich hatte Gesa in diesem Augenblick wirklich gewusst, dass es mit Bele zu Ende ging.
    »Aber auch Marie war stolz«, keuchte Bele. »Ich hätte das wissen müssen. Mit keiner einzigen Träne hat sie versucht, mich rumzukriegen. Ein paar Tage später ist sie in ihrem Blut gelegen. Ich konnte nichts mehr ausrichten. Es war zu spät. Die alte Suse muss ihr was gegeben haben, die alte Suse hat manchmal einer was gegeben, wenn sie sie mochte. Marie mochten viele. Das war ihr Verhängnis, verstehst du? Verstehst du mich jetzt, Gesa, mein Mädchen?«
    Sie versuchte es zu verstehen. Es war das Letzte gewesen, was Gesa von Bele zu hören kriegte. Außer dem Husten und dem rasselnden Atem der letzten Stunden.
    Seitdem versuchte Gesa zu verstehen, was es mit dem Glück auf sich hatte, nach dem ihre Mutter wohl vergeblich auf der Suche gewesen war.
    Schon die ganze Zeit hatte Gesa mit geschlossenen Augen dagesessen. Die Stelle, wo ihr Rücken die harte Lehne der Bank berührte, fühlte sich taub an und kühl. Unter ihren Händen spürte sie das blank gesessene Holz. Vor allem aber spürte sie die gewaltige Größe des Kirchenschiffs über sich. Stille hatte sich ausgebreitet, denn außer ihr war kein Mensch da, der beten oder etwas verstehen wollte. Doch es gab viel Raum für ihre Gedanken, so wie sie es noch nie zwischen den Wänden oder unter dem Dach eines Gemäuers erlebt hatte. Sie kannte nur Kammern und Stuben, die einen zusammenstauchten und in denen es meist dunkel war, selbst im Sommer. Auch in der Dorfkirche zu Hause war es dunkel, ein geduckter Bau, in dem es keine Fenster aus buntem Glas gab. Aber hier schien es, als würden sich die vielen Fragen aus ihrem Kopf befreien, damit sie einen besseren Blick auf mögliche Antworten hatte.
    Viel Zeit blieb ihr dafür nicht mehr, denn eigentlich

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