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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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geöffnete Bauchhöhle bieten konnte, sie die Oberfläche eines Uterus berühren lassen und ihnen die Ovarien zeigen konnte? Wie sollte er ihnen das Präparieren beibringen, die Methoden, um Querschnitte von Organen herzustellen?
    Wenn die Frauenspersonen doch erst einmal zu ihm kämen, um zu gebären! An ihrem Tod war ihm nicht gelegen, niemals. Er gab kein Leben kampflos auf. Nicht das einer Frau und nicht das eines Kindes. Manchmal hing das Leben des einen vom Tod des anderen ab. Er hatte das erleben müssen, und es war ihm ein Gräuel gewesen, ein Kind mit Haken, Kopfziehern und Scheren im Leib der Mutter zerstückeln zu müssen, damit sie an ihm nicht zugrunde ging.
    Frauen starben unter der Geburt oder im Kindbett. Ungeborene starben und Neugeborene auch. Jeder, der sich mit der Geburtshilfe befasste, musste damit fertig werden. Und wenn dies unter seinen Händen geschah, was konnte dann falsch daran sein, die toten Geschöpfe für die Wissenschaft zu nutzen? Wie sollten sie gegen das Sterben angehen, ohne Licht in das Dunkel des Körperinneren zu bringen?
    Selbst den Hebammen, die er auszubilden gedachte, kam dies zugute. Natürlich musste ihnen vieles unverständlich bleiben von den Kenntnissen, zu denen ein akademischer Mediziner verpflichtet war. Doch ein wenig anatomischer Unterricht konnte nicht schaden, damit sie das Wenige, was sie zu tun hatten unter einer natürlichen Geburt, besser taten. Auch auf diesem Gebiet gab es noch viel zu tun, um das Bewusstsein der Menschen zu verändern und die Herrschaft des dürftigen Wissens abzuschaffen. Aber wie sollte er das alles bewerkstelligen mit den vierhundert Talern, die ihm der Landgraf für das Jahr zubilligte?
    Kilian stellte fest, dass sein Atem schneller ging, und er verspürte ein leichtes Stechen unter den Rippen. Er lehnte sich an den Büchertisch und stützte sich mit den Händen ab. Es war dunkel im Zimmer, und er wollte sich beruhigen. Aufregung nutzte ihm nichts, ebenso wenig wie Neid. Den konnte er manchmal nicht verhindern, und wenn es so weit war, dann quälte ihn ein Moment der Selbstverachtung, er mochte das nicht besonders an sich.
    Jetzt war es wieder so weit, dass er an Melanders Accouchierpalast in Göttingen denken musste. Es war keinesfalls übertrieben, es so zu benennen, dieses erste Gebäude seiner Art. Ein eigener Bau für ein Entbindungshospital war etwas vollkommen Neues in Deutschland. Natürlich war Kilian der Einladung gefolgt, es zu besichtigen.
    Das Königliche Entbindungshospital zu Göttingen war ein prächtiges Gebäude mit drei Stockwerken, seinen Funktionen perfekt angepasst. Melander wusste das bei seiner Führung unablässig hervorzuheben.
    Das erste Obergeschoss barg als Zentrum des Geschehens den Entbindungs- und Lehrsaal. Es gab sieben Zimmer für Schwangere und Wöchnerinnen. Nicht mehr als zwei Frauen hatten sich eine Kammer zu teilen, und jede hatte ihr eigenes Bett. Unten wohnten Hebammenschülerinnen nicht eben unkommod, einen Gang weiter Hausmägde und Hospitalverwalter.
    In der zweiten Etage residierte Professor Melander mit seiner Familie. Von da oben hatte er alles im Blick, denn das Treppenhaus war eine architektonische Meisterleistung. Es ließ an das Innere eines Schneckenhauses denken, überwölbt von einer Lichtkuppel. Es machte das Haus hell und ließ frische Luft zirkulieren, wie es sich für ein Hospital gehörte.
    Melander verzeichnete nahezu hundert Geburten im Jahr. Man munkelte sogar von einer kleinen Klientel zahlender Patientinnen, die unerkannt in besonderen Zimmern niederkamen, und die natürlich nicht der Lehre zu dienen hatten. Ansonsten nahm auch das Göttinger Haus die Weiber auf, die gar nichts hatten.
    Sie hatten Hilfe bitter nötig, das durfte man nicht vergessen. Was sie ihnen boten – auch er, Kilian in Marburg -, war mehr, als sie von irgendjemand sonst zu erwarten hatten.
    Und trotzdem kamen sie nicht.
    Oder sie liefen weg. Er hielt dies für reine Dummheit. Er durfte es nicht darauf beruhen lassen. Er musste das Haus füllen, damit er lehren konnte. Es galt den Weibsbildern etwas anzubieten.
    Kilian richtete sich auf, als ihm der nächste Gedanke durch den Kopf schoss. Es war so einfach.
    Den abendlichen Spaziergang zu seiner Wohnung würde er genießen. Er würde frische Luft atmen und daheim einen Brief an den Landgrafen aufsetzen.

    »Marie, Marieachmarie …«
    »Was ist denn mit ihr? Marie ist schon so lange fort.«
    »Wenn sie nur fort wär! Sie ist nicht fort. Er hat sie

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