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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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stand es ihnen gar nicht zu, grundlos das Haus Am Grün zu verlassen. Doch überraschenderweise hatte es keine Einwände gegeben, als Gesa darum gebeten hatte, die Elisabethkirche aufsuchen zu dürfen. Sie hatte es sogar Professor Kilian persönlich zu verdanken, dass sie hier sein konnte, denn die Hebamme Textor war auf ihre missmutige Weise unentschlossen gewesen, ob sie Gesa gehen lassen sollte. Doch der Professor war dafür recht guter Dinge und zeigte sich großzügig. Er hatte sich erkundigt, ob die anstehende Arbeit erledigt war, und darauf gepocht, dass Gesa sich rechtzeitig zum nachmittäglichen Unterricht wieder einzufinden habe.
    Sie hatte hierher kommen wollen, gleich nachdem ihr die leuchtende Farbe des Westportals aufgefallen war, am ersten Tag, als sie schnell daran vorbeigehen musste. Die Türen der Kirche waren rot wie ein Sonnenuntergang. Früher hatte Gesa sich oft gefragt, wo da oben in Gottes Nähe ihre Mutter sich wohl aufhalten mochte. Wenn die Sonne untergegangen war und ein rotes Band über das Tal gezogen hatte, war es ihr begreiflicher vorgekommen, weil der Himmel einen Anfang und ein Ende zu haben schien.
    Sie hatte nur wenige flüchtige Erinnerungen an ihre Mutter. Es gab keinen Geruch, den Gesa mit Marie verband, und sie hätte nichts über ihr Äußeres zu sagen gewusst. Es war so etwas wie feuchter Atem, den sie manchmal in ihrem Haar zu spüren meinte, und die Wärme eines Körpers, der ihren umfing. So musste es sich angefühlt haben, wenn sie mit ihrer Mutter in einem Bett geschlafen hatte.
    Mit Bele hatte sie nicht lange das Bett geteilt, und Bele zog sie nie an sich. Sie hatte Gesa nicht umschlungen und in ihr Haar geatmet. Doch sie hatten Rücken an Rücken gelegen, der kleine gekrümmt an dem größeren, sodass ihre Wirbel ineinander griffen.
    Gesa bekam ein Bild von ihrer Mutter, als Bele sie in die Dorfschule schickte, wo es nur Unterricht gab, wenn ein Wanderlehrer sich trotz der dürftigen Entlohnung entschloss, für einen oder zwei Winter bei ihnen zu bleiben. Dann bekamen die Kinder in den verstreuten Dörfern am Vogelsberg das Buchstabieren und Zählen beigebracht. Für manche von ihnen reichte es noch zum Katechismus und einfachen Rechenexempeln. Einer der Lehrer hatte ein kurzes Bein, hinkte stark und blieb vielleicht deshalb am längsten von allen im Dorf. Bedeutend jedoch war vor allem ein Buch, das sich in seinem Besitz befand. Eine Bilderbibel nährte Gesas kindliche Vorstellung, wie ihre Mutter sich im Himmel ausnehmen könnte.
    Niemandem war es gestattet, die Bibel zu berühren, nicht einmal das abgewetzte Leder des Einbandes. Doch zur Belohnung für das fehlerfreie Aufsagen eines Verses schlug der alte Lehrer eine Seite auf, und man durfte das ausgewählte Bild vorn an seinem Tisch betrachten – mit im Schoß gefalteten Händen. Dann sorgte er dafür, dass in dieser Zeit nichts anderes im Schulzimmer zu hören war als das Schaben seines Messers, mit dem er die Gänsekiele für die Schreibstunde schnitzte.
    Natürlich hatte Gesa schon vorher Engel gesehen. Doch niemals derart lichte Gestalten, von denen man befürchten musste, sie würden mit einer leichten Bewegung ihrer Flügel aus dem Buch der Bücher entweichen. Vor allem, wenn man sie nicht festhalten durfte.
    So also hatte Marie für ihr Kind ein Gesicht bekommen, und sie war seitdem auf eine tröstlichere Weise fort.
    Auch wenn Gesa sich ihre Mutter längst nicht mehr als Engel vorstellte, so empfand sie es doch, als hätte Bele ihr die Flügel gestutzt. Es war nicht schwer zu verstehen, dass Marie unglücklich gewesen war, als sie starb, sogar verzweifelt. Der feuchte Atem, den sie in Erinnerung hatte, waren vielleicht Tränen gewesen. Ihre Umarmung ein Abschied.
    War es noch von Bedeutung, dass sie das alles verstand?
    Von ihrem Vater wusste Gesa nur, dass er tot war, und das schon vor ihrer Geburt. Offenbar hatte er es gerade eben geschafft, ihre Mutter zu heiraten und ein Kind zu zeugen, in welcher Reihenfolge auch immer das vor sich gegangen sein mochte.
    Über Kaspar Langwasser hatte Bele nie etwas zu sagen gehabt, denn Marie war ihm in der Stadt begegnet, in Fulda, wo sie in Stellung gewesen war. Zur Hochzeit hatte sich Bele gar nicht erst auf den Weg gemacht und Gesas Vater deshalb nie zu Gesicht bekommen. Wie also sollte sie je eine Meinung über ihn haben?
    Marie kam als junge Witwe zu ihrer älteren Schwester ins Dorf zurück, denn kein Haushalt stellte ein Dienstmädchen an, das einen Säugling

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